: Mit Koops gegen die Krise
SOLIDARWIRTSCHAFT Überlebensmodell für bankrotte Firmen
AUS SAN JUSTO JÜRGEN VOGT
Die internationale Krise macht vor den Werktoren der argentinischen Kooperativen nicht halt. In der „Cristales San Justo – Cooperativa de Trabajo“ wird der Ofen gegenwärtig nur für die Pizza angeheizt. Ansonsten sind die Brenn- und Schmelzöfen der kleinen Gießerei kalt. Seit Februar wird in San Justo in der Provinz Buenos Aires kein Autoscheinwerferglas mehr gegossen. „Unser Lager ist gut gefüllt, der Bestand wird jetzt nach und nach verkauft“, sagt Produktionsleiter Ignacio Gallo. „Aber keine Bange, wir machen weiter.“
Der Absatz war mit der Krise in der Autoindustrie im November 2008 eingebrochen. „Also haben wir beschlossen, bis zum 31. Januar auf Hochtouren zu arbeiten und einen guten Lagerbestand anzulegen. Die Löhne werden ohne Abzug weitergezahlt, niemand wird entlassen, nur die Produktion ist eingestellt, um die Kosten dafür einzusparen“, so Gallo. Allein an Energiekosten werden nun monatlich 45.000 Euro gespart. „In einer normalen Privatfirma wären zuerst die Leute entlassen worden.“
Cristales San Justo ist eine von rund 200 Fabricas Recuperadas (wieder funktionierende Fabriken), die seit 2002 in ganz Argentinien entstanden sind. Fabrica Recuperada bedeutet: Die Belegschaft muss ihre bankrotte Fabrik wieder flottmachen und dabei eine horizontale Organisationsstruktur erarbeiten. Und sie muss eine Kooperative bilden, in der alle das Gleiche verdienen. Mittlerweile gibt es zahlreiche solcher Kooperativen: Metallfabriken, Motorenwerke, Großbäckereien, ein Krankenhaus und eine Zeitung. Sie beweisen täglich, dass dieses System funktioniert.
Ihre Entstehungsgeschichten ähneln sich. Während der schweren Wirtschaftskrise 2001/2002 verschwanden ihre Besitzer spurlos, die Belegschaften standen eines Morgens vor verschlossenen Toren. Auch Cristales San Justo wurde über Nacht geschlossen, der Besitzer tauchte nicht wieder auf. „Am 16. September 2002 sind wir in die Fabrik hineingegangen. Vorher hatten wir in einem Zelt vor der Fabrik kampiert und all den Papierkram gemacht, um die Kooperative zu gründen.“ Eine Übernahme? „Der Konkursverwalter ist gekommen und hat uns das Fabriktor geöffnet. Vom Richter hatten wir die Erlaubnis“, stellt Ignacio Gallo klar.
Mit 40 Mitarbeitern haben sie angefangen. Heute zählt die Belegschaft 60 MitarbeiterInnen, alle verdienen knapp über 500 Euro im Monat. Die Armutsgrenze in Argentinien liegt für eine vierköpfige Durchschnittsfamilie bei 220 Euro im Monat. Rund ein Viertel der 40 Millionen ArgentinierInnen haben noch weniger. Die Sozialhilfe beträgt umgerechnet etwa 50 Euro. Insofern sind 500 Euro im Monat ein guter Verdienst.
In Argentinien gibt es nur drei Fabriken, die Glas für Autoscheinwerfer herstellen. Eine liegt in Rosario, die andere in Mendoza, beide sind in Privatbesitz. In San Justo wird seit über 40 Jahren Autoscheinwerferglas hergestellt. Die Logos von Ford, VW, Renault und Fiat prangen auf dem Verkaufsprospekt. „Letztes Jahr haben wir sogar für die Konkurrenz in Rosario gearbeitet, als deren Brennofen kaputtging“, sagt Gallo stolz. Berührungsängste habe es auf beiden Seiten nie gegeben, so Gallo. Gemeinsam mit den Belegschaften der anderen Fabriken haben die Kooperativen mittlerweile erfolgreich eine Reform des Konkursrechts durchgesetzt. 2008 wurde ein nationales Rahmengesetz beschlossen, das für alle Fabricas Recuperadas gilt, die bereits als Kooperativen registriert sind. Es gibt den Provinzen das Recht, die Fabriken aufzukaufen. Die einzelnen Kooperativen haben dann 20 Jahre Zeit, das Geld an die Provinz zurückzuzahlen und das Eigentum an den Betrieben zu erwerben.
Trotz der Wirtschaftskrise halten fast alle Fabricas Recuperadas die Produktion aufrecht, auch die Schmiede La Forja, die durch den Film The Take von Naomi Klein international bekannt geworden ist. Als Konsequenz aus der neuen Krise erwartet Gallo sogar den Aufbau neuer Kooperativen. Erst neulich sind die ArbeiterInnen einer großen Keksfabrik bei Gallo erschienen und haben um Rat gefragt. „Sie wussten nicht, wer derzeit die wirklichen Eigentümer ihrer Fabrik sind und ob die Firma pleite oder schon längst im Konkursverfahren ist“, erklärt Gallo.
Jeden Morgen um sechs Uhr findet sich die Belegschaft von „Cristales San Justo – Cooperativa de Trabajo“ vollzählig ein. Bis zwei Uhr wird gearbeitet. Sie warten die Maschinen und Öfen, halten das Lager in Schuss, informieren die Kunden und versuchen, neue Aufträge hereinzuholen. Pessimismus? Fehlanzeige. „So schlimm wie 2001 kann es nicht wieder werden“, da ist sich Gallo sicher. Doch alle warten darauf, dass die Öfen wieder hochgefahren werden. „Nicht nur für die Pizza“, sagt Ignacio Gallo schmunzelnd.