Der Irak en miniature

Kurden, Araber und Turkmenen – in der nordirakischen Ölstadt Kirkuk ringen alle um die Macht

AUS KIRKUK INGA ROGG

In Reih und Glied stehen die Militärbaracken nebeneinander. Regen und Schnee haben die Straßen in Schlammbäche verwandelt, Schulen und Ärzte gibt es keine, der nächste Markt ist einen halbstündigen Fußmarsch entfernt. Die ehemalige Militärbasis im Südwesten von Kirkuk ist ein trostloser Ort. Dennoch haben mehrere tausend Kurden, die einst vom Saddam-Regime aus der Stadt vertrieben wurden, hier fürs Erste Zuflucht gefunden. Damals wie heute Habenichtse, hoffen die meisten auf die angekündigte Wiedergutmachung. Doch die lässt auf sich warten.

Bis dahin bringt niemand Zekiye Wali dazu, ihr neues Zuhause, ein Zimmer mit Toilette, wieder aufzugeben. „Mein Großvater, mein Vater und ich wurden hier geboren“, sagt die 50-jährige Witwe und Mutter von fünf Kindern. „Das ist meine Stadt.“ Deshalb wird sie am Sonntag auch wählen, und zwar die „Kurdische Allianz“ der großen kurdischen Parteien und ihrer Verbündeten, die Liste 130.

Am Sonntag wollen die Kurden den Beweis erbringen, dass Kirkuk, ihre heimliche Hauptstadt, kurdisch ist. Dafür haben Masud Barsanis Demokratische Partei (KDP) und Dschalal Talabanis Patriotische Union Kurdistans (PUK) ihr politisches Gewicht in die Waagschale geworfen und für die Vertriebenen das Wahlrecht in Kirkuk durchgesetzt. Andernfalls hatten sie mit einem Wahlboykott gedroht. Bis zum Dienstag haben 50.000 Vertriebene von ihrem Recht auf Nachregistrierung Gebrauch gemacht – nicht ganz die Hälfte der von Menschenrechtsorganisationen auf 120.000 geschätzten Zahl der Betroffenen.

Kirkuk freilich wird nicht nur von den Kurden, sondern auch von den Turkmenen und Arabern beansprucht. Am Rande der Stadt kann man die Feuer der Ölfelder sehen, die die Stadt für alle so begehrenswert machen. Doch weil keiner in den Ruch profaner wirtschaftlicher Interessen kommen will, führen die Vertreter der verschiedenen Gruppen lieber die Geschichte ins Feld. Wie immer in solchen Fällen lassen sich für jeden Anspruch echte oder vermeintliche Beweise finden: Die Turkmenen bildeten in osmanischer Zeit die Oberschicht und tun das bis zu einem gewissen Grad auch heute noch. Und Araber lebten auch vor Saddams Deportations- und Umsiedlungspolitik in der Stadt.

Der Ajatollah ruft

Nachdem Araber und Turkmenen schon mit einem Wahlboykott geliebäugelt hatten, hat sich die Mehrheit inzwischen darauf besonnen, dass sie damit am Ende nur verlieren kann. Einträchtig hängen die Wahlplakate der schiitischen Vereinigten Irakischen Allianz neben denen der Front Irakischer Turkmenen, dem Konterfei von Regierungschef Ajad Allawi und dessen Irakischer Liste, der Nationalen Liste der zwei Ströme, einem Bündnis christlicher Parteien, und der Kurdischen Allianz. 111 Einzelparteien und Bündnisse treten zur ersten demokratischen Wahl im Irak seit fünfzig Jahren an. Schlagworte wie Einheit, Gerechtigkeit und Demokratie beherrschen den Wahlkampf. Der beschränkt sich jedoch wegen der Terrorgefahr vor allem auf Fernsehspots und konspirative Zusammenkünfte.

Auch in Kirkuk treten vor allem Listen an, die versuchen, die Wähler bei ihrer ethnischen oder religiösen Identität zu packen. Doch so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint, ist das nicht. Einige turkmenische Parteien zum Beispiel kandidieren auf der Liste der Schiiten-Allianz, andere haben sich mit den Kurden zusammengetan.

Für Abdul Asis Mohammedawi zählt nur das Wort von Großajatollah Ali Sistani. „Wenn er sagt, wir sollen wählen, dann tue ich das auch“, sagt der Sechzigjährige. Sistani hat das Wählen zur religiösen Pflicht erklärt, und seine Vertrauten raten den Gläubigen zur Liste 169, der schiitischen Allianz. Mohammedawi beeindruckt das freilich wenig. In einem unscheinbaren Haus im Südosten von Kirkuk betreibt er Wahlkampf für Regierungschef Allawi. Diskret, aber effektiv. Schien Allawi vor Wochen noch weit abgeschlagen, so konnte er in der Wählergunst mittlerweile deutlich aufholen. Neben einer aufwändigen Medienkampagne haben dazu auch Leute wie Mohammedawi beigetragen.

Vor dreißig Jahren kam er als Polizist nach Kirkuk. Freimütig gibt er zu, dass ihn Saddams großzügige Landschenkungen an die Araber in die Stadt im Norden gelockt haben. Fast alle in seinem Viertel haben davon profitiert, entsprechend hoch ist hier der Anteil an altgedienten Kadern der früheren Baath-Partei. Aber das sei Schnee von gestern, sagt der Expolizist. „Heute müssen wir in die Zukunft schauen.“ Dazu gehöre auch die Wiedergutmachung des Unrechts an den Kurden, noch dringlicher sei die Wiederherstellung von Recht und Ordnung.

„Allawi hat die richtige Medizin für unser Land“, sagt Mohammedawi. Der könne die Ethnien und politischen Strömungen einen und den Terroristen die Stirn bieten. Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum er Allawi für den Richtigen hält: Wenn die Religiösen an die Macht kämen, sagt er, gäbe es bald im ganzen Land keinen Alkoholausschank mehr.

Mit versteinerte Miene hat Scheich Abu Ayman Mohammedawi zugehört. „Die Kurden wollen uns von hier vertreiben“, sagt der Schiit schroff. Seit dem Sturz des Regimes hätten die Araber in der Stadt immer mehr an Boden verloren. „Das dürfen wir nicht zulassen.“ Einige zehntausend Araber, die sich unter dem alten Regime in Kirkuk niederließen, sollen die Stadt inzwischen verlassen haben. „Die Wahl ist eine Farce“, sagt der Scheich. „Die Amerikaner werden das Ergebnis so lange hinbiegen, bis es ihnen und den Kurden passt.“ Deshalb will er auch nicht zur Wahl gehen. „Meine Stimme gebe ich für dieses Theater nicht her.“

„Haltet euch fern!“

So wie der schiitische Scheich denken auch viele Sunniten. Insbesondere unter den Alteingesessenen findet man aber auch Stimmen, die in der Wahl eine Chance zum Neuanfang sehen. Städte wie Kirkuk mit ihren rund 500.000 Wahlberechtigten könnten das Zünglein an der Waage sein. Offen ist freilich, wie viele Bürger sich am Sonntag an die Urne wagen. Ein paar Meter von Mohammedawis Wahlkampfbüro entfernt haben Untergrundkämpfer einen Aufruf an die Hauswand gesprüht: „Wir warnen euch davor, wählen zu gehen“, lautet die Botschaft an die „muslimischen Brüder von Kirkuk“. Um die Ecke hat sich die Jaish Ansar al-Sunna verewigt, die in der Grausamkeit ihrer Anschläge gleichauf mit al-Sarkawis Al-Qaida-Ableger rangiert. „Muslime, haltet euch von den Wahllokalen fern“, warnt die Terrorgruppe, „sie sind das Ziel der tapferen Soldaten Gottes.“

Wähler wie die Witwe Wali und der Expolizist Mohammedawi wollen sich von den Drohungen der Extremisten nicht abschrecken lassen. „Zum ersten Mal kann ich wählen“, sagt die 50-Jährige. „Dieses Recht lasse ich mir nicht nehmen.“ Bei der Wahl zum kurdischen Regionalparlament, die auch am Sonntag stattfindet, kann die Kurdin nicht votieren. „Noch nicht“, sagt sie. „Aber Kirkuk gehört zu Kurdistan.“ Das will sie mit ihrer Stimmabgabe am Sonntag beweisen.