: Bilder, auf sich allein gestellt
VON WOLFGANG ULLRICH
„… von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten“, heißt es über Christus im Apostolischen Glaubensbekenntnis. „Die Toten“ ist der Titel eines Bilderzyklus des 1941 in Düsseldorf geborenen Hans-Peter Feldmann über den politischen Terrorismus der Bundesrepublik. Mancher dürfte darin ein verkürztes Zitat, eher eine dezente Anspielung, auf jenes Glaubensbekenntnis erkennen wollen: Nicht die Lebenden, sondern nur die Toten stehen hier zur Debatte, die dafür, wie bei einem Jüngsten Gericht, ganz unabhängig von ihrer Wichtigkeit und Rolle verhandelt werden.
Feldmanns Arbeit gehört zu den wenigen künstlerischen Auseinandersetzungen mit Baader-Meinhof-Bewegung und RAF, die ausdrücklich allen im Zuge des Linksradikalismus durch oder als Deutsche ums Leben Gekommenen ein Denkmal setzt. Ob Täter oder Opfer, ob ProtagonistIn oder unbekannte Randfigur – jede(r) wird von Feldmann gleich behandelt.
Seine Fotodokumentation berücksichtigt neunzig Personen, die zwischen 1967 und 1993 ihr Leben verloren; im Anhang dieser 1998 zuerst als Buch publizierten Sammlung steht, fast wie ein juristischer Warnhinweis, sie erhebe „keinen Anspruch auf Vollständigkeit“. Auch wird an die „in die Hunderte gehende Zahl von zum Teil Schwerverletzten“ erinnert, „deren Leben, teilweise bis an ihr Lebensende, durch ihre Verletzung nachhaltig beeinträchtigt wurde bzw. sein wird“. Chronologisch beginnt die Reihe der Toten mit Benno Ohnesorg und endet bei Wolfgang Grams (angehängt sind noch drei Vermisste). Jeder Person widmet Feldmann im Buch eine Doppelseite (in der Ausstellung: ein Blatt) und zeigt ein Foto, darunter den Namen und das Todesdatum. Im Anhang finden sich ein paar zusätzliche Angaben: Alter, Status und Todesursache.
Ikonografie des Todes
Die Fotos sind in Schwarz-Weiß; bei vielen ist zu sehen, dass sie Zeitungen entnommen sind oder zumindest nicht direkt vom Negativ abgezogen wurden. Manchmal sind die Personen also nur unscharf oder grobkörnig abgebildet, oder ein starker Kontrast beeinträchtigt die Erkennbarkeit. Insoweit folgt Feldmann einer modernen Ikonografie des Todes, der sich auch andere Künstler bedienen. So zeigt Gerhard Richters 15-teiliger RAF-Zyklus „18. Oktober 1977“ (1988), der einseitig auf die Täter konzentriert ist, die Terroristen teils in extremer Unschärfe gemalt, als seien nach ihrem Tod nur Spuren geblieben, weshalb Schuldfragen irrelevant werden.
Die technisch mäßige Bildqualität macht aber nicht nur Vergänglichkeit bewusst, indem selbst dramatische Ereignisse in der Gleichgültigkeit der Fotokörner verschwinden; vielmehr wirkt sie gerade bei Feldmann auch ernüchternd, ja minimiert die Tendenz, das Geschehene zum Mythos aufzuladen. Vielleicht erscheinen die Fotos sogar etwas lieblos ausgewählt, ist der/die Tote manchmal doch nur am Rande oder gar nicht zu sehen (so etwa bei Ulrich Wessel oder Wolfgang Beer) und dann durch ein Bild vom Tatort oder der Beerdigung „ersetzt“. Hat Hans-Peter Feldmann sich also nicht einmal die Mühe gemacht, für jede(n) der Toten ein gutes und die Person sachlich darstellendes Foto aufzutreiben? Ja, behandelt er doch nicht alle gleich, da er Rudi Dutschke lächelnd und mit Studentenführer-Ausrüstung zeigt, Andreas Baader hingegen als Leichnam mit starrem Gesicht und Gerold von Braunmühl, mit einem Tuch bedeckt, als blutverschmierten Leib?
Selbst wenn man darauf mit dem Hinweis antwortet, Feldmann habe sich (wie bei den meisten seiner anderen Arbeiten) auf Fotos aus den Printmedien beschränkt und daher manchmal vielleicht einfach kein besseres Bild auftreiben können, bleibt die Frage der Auswahl zentral. Immerhin wurden zu den meisten – durchweg spektakulären – Todesfällen viele verschiedene Fotos in Zeitungen und Zeitschriften gedruckt. Vor allem waren dabei aber auch diverse Genres einbezogen: vom Familienbild über das Passfoto bis zum Bild vom Sarg, vom Fahndungsfoto bis zum gerichtsmedizinischen Dokumentarbild. Tatsächlich scheint es Feldmann wichtiger gewesen zu sein, viele Typen von Bildern zu berücksichtigen als aller Toten auf möglichst dieselbe Weise zu gedenken. In der Summe entsteht so ein Querschnitt durch die Ikonografien, in denen über den Terrorismus berichtet wurde, und Feldmanns Arbeit dokumentiert ein Stück massenmediale Bildpolitik. Dies wird um so deutlicher, als er die Fotos für sich allein abdruckt – ohne die Bildunterschriften oder die Artikel, mit denen zusammen sie ursprünglich in einer Zeitung zu sehen waren. Manches wirkt daher geradezu unverständlich oder beliebig; ein paar Bilder, etwa das Foto, das den Tatort der Ermordung Ulrich Schmückers zeigt, entfalten sogar eine rätselhafte Banalität: Da stehen zwei dunkel gekleidete Figuren, Hände in den Taschen, an einem abschüssigen Weg im Wald, weiter unten sind zwei weitere Personen, von denen sich eine bückt und eine kniet; ganz oben leuchtet ein VW-Käfer zwischen den Bäumen hervor. Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass am Wegrand ein offenbar bereits toter Mensch liegt. Ernst und Komik vermischen sich hier so merkwürdig, dass das Foto ohne Erläuterung völlig sinnlos bleibt, und auf einmal empfindet der Betrachter ein Ungenügen angesichts der geringen Information solcher Pressebilder, die sonst aber ganz selbstverständlich rezipiert werden.
Ernüchternder Blick
Bei der Arbeit „Die Toten“ trägt gerade auch diese Isolierung der Bilder zu einem ernüchternden Blick auf den Terrorismus bei. Kaum eines der Fotos hat die Kraft, ihn besonders dämonisch oder dramatisch erscheinen zu lassen. Selbst einige ziemlich grausame Bilder zeigen nichts, was spezifisch für Terrorattentate wäre oder was in der einen oder anderen Richtung skandalisieren könnte. Und nur zwei der neunzig Bilder sind so bekannt geworden, dass sie als Ikonen der Zeitgeschichte gelten können: Der gerade erschossene Benno Ohnesorg, über dem eine junge Frau kniet, was entfernt an eine Pieta erinnert; und Hanns-Martin Schleyer, der von seinen Geiselnehmern mit RAF-Signet und der Aufschrift „Seit 31 Tagen Gefangener“ fotografiert wurde. Das war zugleich das wohl einzige starke Bild, das der bundesdeutsche Terrorismus ausdrücklich produziert hat. Man begreift dank Feldmanns Zusammenstellung auch, wie wenig es damals noch – im Vergleich zu gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen heutzutage – um einen Terror der Bilder ging.
Aber noch etwas löst die Fotosammlung aus: den Wunsch, mehr zu erfahren. Gerade weil die Bilder allein so wenig aussagen, weil sie zudem oft nicht einmal gut erkennbar sind, wüsste man – zumindest in einzelnen Fällen – gerne Genaueres. Indem der Anhang sich auf ein paar Fakten beschränkt, wird die Neugier auch hier nicht befriedigt. Wer war denn Ulrich Schmücker, dessen Leichenbergung zu einem so bizarren Gruppenbild geführt hat? Warum erschossen ihn Gesinnungsgenossen wegen Verrats? Oder was für ein Mensch war der Vater von Petra Schelm, die bei einem Schusswechsel getötet wurde? Auf dem Foto, das Hans-Peter Feldmann ausgewählt hat, sitzt er mit vor dem Mund gefalteten Händen an ihrem Totenbett.
Wer Feldmanns Arbeit anschaut, spürt die eigenen Wissenslücken, was die Geschichte des Terrorismus betrifft. Doch werden diese Lücken hier nicht mit Pathos gefüllt und als Nährboden für Verklärungen genutzt; im Gegenteil führt die nüchterne Darbietung des Totenkatalogs zu einem Bedürfnis nach sachlicher, analytisch-klarer Information, die es nur hinter dem Nebel der Fotos geben kann. So bestärkt der Düsseldorfer Hans-Peter Feldmann eine bilderskeptische Haltung und achtet vor allem darauf, weiteren Ikonisierungsversuchen der RAF entgegenzuwirken. Das macht seinen Beitrag so wichtig innerhalb einer (Kunst-)Ausstellung, die dem bundesdeutschen Terrorismus gewidmet ist, und bei der zahlreiche andere KünstlerInnen Figuren wie Andreas Baader oder Ulrike Meinhof als Pop-Heilige feiern oder auf eine RAF-Aura setzen, die auf die Kunst ausstrahlen möge.