Kirkuk lässt sich das Wählen nicht nehmen

Im Feiertagsgewand, auf Krücken und in Rollstühlen kommen die Menschen in der nordirakischen Stadt Kirkuk in die Wahllokale. Besonders im kurdischen Quartier herrscht Partystimmung: „Jetzt bekommt Saddam Hussein seine Rechnung.“ Doch die Stadt gleicht einer Trutzburg

Auch wenn sieden ganzen Tag warten müssen,sie wollen wählen

KIRKUK taz ■ In Anzug und Krawatte und frisch rasiert sitzt Hamid Mejid Naib auf einer Bank. Um ihn herum drängen sich Jung und Alt, sodass kaum noch ein Durchkommen ist. „Ich habe heute meine besten Kleider angezogen“, sagt der 63-jährige Hamid. „Heute ein Festtag, und das soll auch jeder sehen“, so der Beamte.

Seit drei Stunden steht er vor dem Wahllokal im Stadtteil Arefa im Westen von Kirkuk an. Jetzt tun ihm die Füße weh. „Auch wenn ich den ganzen Tag warten muss, diesen Tag lasse ich mir nicht nehmen.“ Mit Ausweis und dem Formular der Wahlregistrierung in der Hand warten in der Schule im Stadtteil Arefa hunderte darauf, ihre Stimme bei der ersten demokratischen Wahl im Irak seit über einem halben Jahrhundert abzugeben.

Der Schiit will die Liste von mit der Nummer 285 von Ministerpräsident Ajad Allawi seine Stimme geben. „Damit die Turbane nicht an die Macht kommen“, fährt er in Anspielung auf die Liste der großen Schiiten-Allianz fort. Um ihn herum wartet eine Gruppe von jungen Turkmenen, ihre Stimmen bekomme die Liste 175 von der „Front der irakischen Turkmenen“.

Die Prozedur ist langwierig. Jeder muss sich am Eingang einer gründlichen Leibesvisitation unterziehen. Dann wird im Wahllokal der Name geprüft, anschließend erhält jeder zwei riesige Wahlzettel – ein lachsfarbenes Blatt mit den 111 Listen für die Wahl zur Nationalversammlung und ein hellgrünes Blatt mit den 24 Parteien und Bündnissen, die zur Wahl für den Provinzrat von Kirkuk angetreten sind. Dabei wird jedes Blatt von einem der Wahlhelfer auf der Rückseite mit einem Stempel versehen. In jedem Wahllokal stehen zwei Urnen aus opakem Plastik, nach der Stimmabgabe tunkt jeder einen Zeigefinger in das kleine Gefäß mit violetter Tinte. Wahlhelfer und lokale Beobachter sorgen für einen reibungslosen Ablauf.

Überraschend ist angesichts der Terrorgefahr der Wille vieler Wähler, das Risiko auf sich zu nehmen. In den Tagen zuvor machten in Kirkuk Gerüchte die Runde, der Terrorist Abu Mussab Sarqawi und Anhänger des alten Regimes hätten für den Wahltag eine Großoperation geplant. Doch die Wähler lassen sich ihr demokratisches Recht nicht nehmen. Auf Krücken, in Rollstühlen, im feinen Gewand oder in Festkleidung kommen sie in die Wahllokale. Erwartungsgemäß ist die Wahlbeteiligung in den kurdischen und turkmenischen Quartieren besonders hoch. Doch viele haben sich auch von den Drohungen nicht einschüchtern lassen.

Im kurdischen Quartier Imam Kassem herrscht Partystimmung. Lautstark hallt aus einem Musikgeschäft kurdische Musik. Frauen und Männer in kurdischen Trachten oder in Alltagskleidung tanzen einen typischen Reigen. Seit sechs Uhr früh steht Ghalib Mejid in der hundert Meter langen Schlange an. „Ich fühle mich wie neu geboren“, sagt der 40-Jährige. „Endlich bekommt Saddam seine Rechnung für das, was er uns angetan hat.“ Er wähle die Liste der „Kurdistan-Koalition“. „130, 130, 130“, schallt es wie ein vielstimmiger Chor. Der Liste der Kurden gehört ihr Votum.

Es ist kurz vor acht Uhr morgens, als im Süden der Stadt eine Explosion zu hören ist. Fatma Abdulla, die für den lokalen Menschenrechtsverein als Wahlbeobachterin im Einsatz ist, zuckt zusammen, Tränen treten ihr in die Augen. „Jetzt geht es los“, sagt sie. Schnell wendet sie sich ab und verlässt den Raum. Doch bis auf einen Granateneinschlag am frühen Morgen, bei dem eine Person getötet wurde, und einigen Schüssen, bleibt die Stadt ruhig. Das Sicherheitskonzept der Amerikaner und Iraker hat sich bewährt.

Ein Großaufgebot an Polizei hat die Stadt in eine Trutzburg verwandelt. Etwa alle 300 Meter findet sich eine Straßensperre, penibel prüfen sie jedes Fahrzeug. Doch viel Verkehr gibt es ohnehin nicht. Nur lizenzierte Busse, die Wähler zu den Wahllokalen transportieren, und die Autos für die Wahlbeobachter und Journalisten dürfen sich in der Stadt bewegen. Bis auf wenige Ausnahmen haben sämtliche Geschäfte geschlossen. Es sieht ein wenig aus wie an einem schläfrigen Sonntag in einer mittelgroßen deutschen Stadt. Hin und wieder ist eine amerikanische Patrouille zu sehen. Doch im Großen und Ganzen halten sich die US-Soldaten im Hintergrund bereit. Stacheldrahtrollen und Scharfschützen auf den Dächern der Wahllokale sollen potenzielle Attentäter abhalten. Die Bürger nehmen es gelassen. Einige schmunzeln vor sich hin, als sie der Polizist abtastet. „Heute ist die Geburtsstunde der Demokratie“, sagt Hamid Mejid Naib. „Dafür würde ich noch viel mehr auf mich nehmen.“ INGA ROGG