: Riegels Leadership
Gedrängel um die Thesen der Reformerin Enja Riegel: keine Noten, kein Sitzenbleiben, viel Theater spielen – alle gemeinsam bis zur Neunten
bremen taz ■ Die Plätze im Parkett der Bremer Shakespeare Company sind voll. Schon vor 20 Uhr am Montagabend weichen die ZuhörerInnen auf die Seitenportale aus. Eine Vertrauenslehrerin lässt im Saal den Blick kreisen, bevor sie sich setzt. „Die Kollegen, für die‘s wie gemacht war, sind wieder nicht gekommen“, sagt sie enttäuscht. „Ist jemand vom Kippenberg da?“, wird später jemand laut fragen. Niemand meldet sich. Als hätte es das erwartet, lacht das Publikum.
Dann spricht Enja Riegel, Reformpädagogin aus dem Hessischen, Rektorin a.D. der mehrfach prämierten Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. Mit Charisma spitzt sie zu: „Nur wer selber seine Schule putzt, wird später auch zum Wählen gehen und seine Gesellschaft mitgestalten.“ Schule vom ersten bis zum letzten Schultag sei ernst zu nehmen. Langsame Anlaufphasen nach den Ferien unnötig. Riegel fordert verbindlichen Einsatz – und dabei kritische KollegInnen.
Als vor einigen Jahren Willi Lemke die Helene-Lange-Schule vor Ort besuchte, war er fasziniert von den Freiheiten bei Klassen-, Schul- und Lehrplangestaltung. Enja Riegel die Prophetin des guten Unterrichts, hatte damals unter Hans Eichel hessische Kultusministerin werden sollen, entschied sich aber gegen den Plenarsaal und für ihre Schule – über die BesucherInnen bei ersten Visiten stets erschüttert urteilen: „Die Kinder machen ja, was sie wollen!“ Enja Riegel stimmt zu: „Unsere Kinder, die machen was sie wollen. Sie lieben ihre Schule.“
Als Lehrerin besuchte Riedel vor mehr als zwanzig Jahren auch das damalige „Ganztagsschulparadies Bremen“ – und reiste enttäuscht darüber ab, wie wenig die Schulzentren kooperierten. Als erprobtes und prämiertes Bildungsprogramm empfiehlt sie der Bremer Koalition jetzt drei Punkte fürs Sofortprogramm. Erstens: eine gemeinsame Beschulung aller Kinder von Klasse 1 bis Klasse 9 nach dem schwedischen PISA-Gewinner-Modell. Zweitens: Sitzenbleiben sofort abschaffen. „Es ist wirtschaftlich und sozial ineffektiv.“ Es sei „bedauerlich“, dass Bremen deutschlandweit die höchste Sitzenbleiberquote habe. Und drittens: Weg mit den Ziffernnoten – wie in Finnland vor 30 Jahren. Für ihre Ausführungen greift Enja Riegel auf ihre eigenen Schulerfahrungen als Lehrerin und Rektorin zurück, auf die Forderungen der Industrie- und Handelskammern von Hamburg und Baden-Württemberg, auf die ausgezeichneten PISA-Ergebnisse ihrer Schule sowie auf Vergleichsuntersuchungen des Max-Planck-Instituts.
Rahmenrichtlinien und Lehrplan sollten die LehrerInnen schon kennen, mahnt die Pädagogin zugleich. Wichtig sei aber auch, sich nicht sklavisch daran zu halten. Zudem müssten LehrerInnen nicht immer alle richtigen Antworten wissen. Dafür sprächen beispielsweise überraschend positive Erfahrungen und empirisch belegte gute bis sehr gute Ergebnisse insbesondere im Mathematikunterricht der Oberstufe – durch fachfremde Lehrkräfte.
Weit über Hessens Landesgrenzen hinweg ist die Helene-Lange-Schule außerdem für ihre Theaterarbeit bekannt. Freinets „freier Ausdruck“ gilt hier als Bestandteil einer modernen Schulkonzeption. Das „Sterben“ vor dem Bühnenauftritt, das Rollen abstreifen und neu aufnehmen während der Inszenierung, das sich selbst Erkennen und Diskutieren während der Probenarbeiten mit echten Profis – nicht mit Lehrkräften, die Theaterstücke zu „Sprechstücken“ machen –, der Applaus und die Autogramme nach den Aufführungen, all das trage zur Reifung der SchülerInnen bei. Auch stelle es einen Grundpfeiler der schulischen Polis, des schulischen Gemeinwesens also, im Sinne ihres Freundes und Lehrers, des Reformpädagogen Hartmut von Hentig, betont die leidenschaftliche Schulleiterin a.D. Enja Riegel und scheut sich an diesem Abend nicht, anderen deutlich zu sagen, wo es langgehen soll. Sie nennt das „Leadership“.
Tobias Baron
„Schule kann gelingen“ von Enja Riedel ist für 2 Euro über die Bundeszentrale für Politische Bildung erhältlich