Sexy Dörfer

Sind zu viele Elche: Unter dem Motto „Splendid Isolation“ widmet sich die diesjährige Transmediale dem Schwerpunkt Skandinavien, besonders dem so genannten Artrockmonsterjazz aus Norwegen

VON ANDREAS HARTMANN

Für Menschen, die irgendwo in der Provinz geboren sind und an der kulturellen Beschränktheit der Provinz zu zerbrechen drohen, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie orientieren sich an den Lichtern der Großstadt oder sie ziehen in ihrem eigenen Dorf etwas hoch. Immer wieder kam so interessante Popmusik nicht nur aus urbanen Ballungsräumen, sondern auch aus Kleinstädten, man denke nur an Bristol oder Weilheim. Wer also etwas abseits lebt und aus seiner Randständigkeit kreativ Sinn schöpft, ist kein hoffnungsloser Fall, sondern kann die Entdeckung von morgen sein.

Im Falle Skandinaviens, dem die diesjährige Transmediale unter dem Motto „Splendid Isolation“ einen Schwerpunkt widmet, ist es sogar so, dass ein ganzes Länderkonglomerat allgemein als Provinz betrachtet wird: zu viele Elche, zu wenig Einwohner, keine Wolkenkratzer. Popkulturell war diese vermeintliche Abgeschiedenheit jedoch nicht von Schaden. Abba und A-Ha gingen um die Welt, norwegischer Blackmetal ist inzwischen sogar MTV-tauglich, Garagenrockbands aus Europas Norden gelten als die würdigsten „The Stooges“-Erbverwalter, und Elektroniker wie Jimi Tenor oder Pan Sonic haben den „verrückten Finnen“ zum Markenzeichen gemacht.

Noch am wenigsten bekannt, dafür aber umso interessanter ist ein neuer Sound, der vor allem aus Norwegen kommt und den man nur dann schlicht „Jazz“ nennen sollte, wenn man auch das, was sich in den Achtzigern um die New Yorker Avantgarde-Anstalt Knitting Factory gruppierte, mit „Jazz“ als genügend umschrieben betrachtet. Denn bei den meisten der Acts, die vor allem auf den beiden Osloer Labels Rune Grammofon und Smalltown Supersound umtriebig sind, spielen freie Improvisation und Jazz als Orientierungshilfe zwar eine große Rolle, doch vor allem geht es darum, sich gegenüber Elektroakustik, Musique Concrète, neuer elektronischer Musik oder Rock nicht zu verschließen.

Grenzziehungen werden bewusst ignoriert, und allein schon personelle Verstrickungen machen deutlich, dass diese Szene zwischen Oslo, Trondheim und irgendeinem Dorf mit Wikingermuseum sich in alle Richtungen streckt. So spielt etwa Helge Sten nicht nur in der Progrockband Motorpsycho, sondern ist auch verantwortlich für so genannte „Audio Viren“ bei Supersilent, einer verspult-psychedelischen elektroakustischen Improv-Combo, deren Auftritt schon jetzt als einer der diesjährigen Transmediale-Höhepunkte gehandelt wird. Unter dem Namen Deathprod ist Sten außerdem verantwortlich für selbst gebastelte Klangabgründe aller Art.

Die bekannteste Combo dieses neuen Norwegen-Sounds, Jaga Jazzist, wird im Rahmen der Transmediale leider nicht auftreten, dafür kommt der renommierteste Trompeter des Landes unter dem Stichwort „Grenzgänger“ zur Transmediale: Nils Petter Molvaer. Neben seinem Landsmann Bugge Wesseltoft war er einer der Ersten, der klassischen Jazz mit DJ-Sounds koppelte. So wie Nils Petter Molvaer würde es heute auch Miles Davis machen, heißt es immer wieder.

Doch aufregender als der etwas schöngeistige Petter Molvaer ist eben das, was es auf Rune Grammofon und Smalltown Supersound zu entdecken gilt. Schon rein visuell. So wild wuchernd die Soundästhetik beider Labels ist, so sehr legen sie Wert auf einen optischen Wiedererkennungswert ihrer Tonträger. Kim Hiorthoy, inzwischen gefeierter Grafiker, der selbst Musik auf Smalltown Supersound veröffentlicht, ist vor allem verantwortlich für das schlichte Corporate Design von Rune Grammofon. Jede CD bekommt durch ihn den Wiedererkennungswert eines Merve-Bändchens, das spezielle Design betont so den familiären Zusammenhalt dieser Szene und ist ihr roter Faden. Hiorthoy wird mit ein paar anderen anlässlich der Transmediale die Maria am Ostbahnhof komplett umgestalten.

Die Frage, die bei „Splendid Isolation“ implizit gestellt wird, lautet: Hätte diese Musik von Supersilent, Nils Petter Molvaer oder auch Geir Jenssen aka Biosphere, eine Musik, die auch schon Mal „Artrockmonsterjazz“ oder „Arctic Ambient“ genannt wird, auch woanders entstehen können? Oder ist an dem beliebten Mythos wirklich etwas dran, nach dem in Skandinavien so viele eine Band gründen oder sich mit ihrem Laptop beschäftigen, weil es sonst einfach zu öde wäre, den ganzen Tag Hirsche zu jagen oder in den Fjorden spazieren zu gehen? Braucht es wirklich eine zerklüftete Landschaft, damit eine Musik entstehen kann, die so klingt, wie man sich in der Umgebung einer zerklüfteten Landschaft entstandene Musik ganz allgemein vorstellt?

Das Ziel von „Splendid Isolation“ ist es, Klischees in Frage zu stellen, sie aber auch zu affirmieren. Musik ist diesem Verständnis nach also immer noch auch geprägt von ihrem Produktionsstandort, während sie gleichzeitig mithilfe Neuer Medien und globaler Vernetzungsmöglichkeiten ortlos zu sein scheint. Sie ist Ausdruck all der segensreichen Aspekte von Globalisierung und funktioniert im Falle der neuen Sounds aus Skandinavien so: Man nehme alles von überall her und bastle daraus unter Einbezug des Eigenen etwas völlig Neues. So erinnern Supersilent an den Jam-Charakter, der in der Londoner Improv-Szene üblich ist; und doch ist es wahrscheinlich mehr als eine Projektion, wenn jemand in einer Rezension schreibt, ihr Sound würde „an die wilde Schönheit norwegischer Gletscherflüsse“ erinnern.

Termine unter www.transmediale.de