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Archiv-Artikel

Morgen fault der Fisch drin

Von Jochen Schmidt

I. Zeitung lesen macht krank

Als Protestant glaubte er fest daran, daß ihn alles im Leben, was er freiwillig tat, von seinen eigentlichen Aufgaben abhielt, die natürlich mühselig waren und vor denen man sich drückte. Daß er lieber die Zeitung las als ein Buch, war der beste Beweis dafür, daß er lieber ein Buch lesen sollte als die Zeitung. Zeitungen waren nur ein Mittel, den Menschen von der Tatsache seiner Sterblichkeit abzulenken, ein billiges Instrument der Verdrängung und Entspannung von sich selbst. Aber sobald er sich entspannte, würden andere in die Bresche springen, und er würde den Rückstand nie wieder aufholen und wäre aus dem Spiel.

Bei ihm hielt sich der Schaden ja in Grenzen, er war mit Literatur geimpft, aber was war mit den anderen, denen die Zeitungen nicht nur ihre Lebenszeit raubten, sondern ihre Sinne verstopften? Er tröstete sich damit, daß es ja einfach undenkbar war, daß irgendwo auf der Welt Menschen lebten, die regelmäßig die ersten Seiten der großen Blätter lasen, dazu wäre doch nur ein seine Arbeit ungerührt und mit Hilfe von Strom verrichtender Automat in der Lage gewesen.

In seiner Jugend in der DDR hatte er gelernt, daß die eigentliche Information eines Mediums sich immer unfreiwillig vermittelte. Wenn es etwas aus der Zeitung zu erfahren gab, dann aus Papierstärke, Schriftgröße, Fotoqualität, Todesanzeigen, Reihenfolge der Grußadressen befreundeter KP-Führer. Als Breschnew starb, erschien sogar die Fußballwoche mit einem Bild der zur Trauer angetretenen Genossen auf Seite eins. Bemerkenswerterweise war der Schriftzug an diesem Tag schwarz statt rot, und weil das anscheinend eine gute Gelegenheit war, Farbe zu sparen, blieb man gleich dabei. Spätestens da war jedem klar, daß es mit dem Land zu Ende ging.

Das Grundprinzip seiner Wirtschaft, daß sich kein Produkt für den Zweck eignete, für den es gedacht war, sondern vom Käufer mit anderen Produkten zu etwas Nützlichem kombiniert werden mußte, galt auch für Zeitungen. So war die Zeitschrift Deine Gesundheit nur ein Vorwand, um in Artikeln über Frauenkrankheiten nackte Körperteile abzudrucken, mit denen man anderweitig an der Zensur gescheitert wäre, aus den Gerichtsberichten in der Wochenpost erfuhr man, wie man schnell zu Geld kommen konnte, die Lokalblätter eigneten sich als Klopapier, und aus den Stapeln Neues Deutschland, die bei ihnen zu Hause stets vorrätig waren, formten sie zu Weihnachten Krippenfiguren aus Pappmaché.

Weil die Zeitung log, war es leicht, die Wahrheit zu erfahren, es handelte sich ja einfach um das Gegenteil. Als in den Siebzigerjahren ein verzweifelter Ofensetzer einen Unfall mit der Wagenkolonne ihres Staatschefs provozierte, sprach man im westlichen Fernsehen von einem Attentatsversuch. In den Zeitungen der DDR wurde das Unglück dagegen mit dem Liebeskummer des Ofensetzers erklärt. Natürlich glaubte er der westlichen Version. »Was in der Zeitung steht, wird ja wohl stimmen«, belehrte ihn eine Mitschülerin in kaum zu begreifender Naivität. Aber durch Zufall erfuhr er Jahre später, daß der Ofensetzer tatsächlich aus Liebeskummer und nicht aus Haß auf den Staatschef die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte. Obwohl es in der Zeitung gestanden hatte, war es die Wahrheit gewesen! Ein verwirrender Umstand, aber glücklicherweise die Ausnahme.

Das damals verlorene Vertrauen ins geschriebene Wort würde sich nie wieder einstellen. Jede Verschriftlichung der Welt war ja eine Fälschung, aber die Version von ihr, die die Zeitungen lieferten, hielt er für völlig überschätzt. Man hätte allein durch eine andere Auswahl der Meldungen täglich zehn verschiedene Zeitungen drucken können und den Eindruck gehabt, in zehn verschiedenen Welten zu leben.

Weil es ihm tendenziell darum ging, die Welt im Ganzen zu erkennen, beleidigte ihn die Begrenztheit seiner geistigen Ressourcen. Wollte man den Input maximieren, mußte man sich entscheiden, und Literatur schien ihm die mächtigste Erkenntnisform zu sein, geeigneter sogar für seine Neugier als die exakten Wissenschaften. Anders gesagt: Literatur war nur ein Maß für die Dichte des Informationsflusses. Eigentlich hätte das jedem klar sein müssen, aber es war erbärmlich: Er kannte Menschen, die ein schlechtes Gewissen hatten, wenn sie eine Woche nicht die Zeitung lasen, aber sie hatten kein schlechtes Gewissen, wenn sie ein Leben lang nicht Flaubert lasen. Dabei gab es eine Gesetzmäßigkeit: Schlechte Bücher verkauften sich besser als gute. Schlechte Zeitungen verkauften sich besser als gute. Alles Schlechte war beliebter als alles Gute. Kein Wunder, daß Zeitungen höhere Auflage erreichten als Bücher.

Eine andere Gesetzmäßigkeit: Je intelligenter man war, um so mehr fürchtete man Zeitungen, weil man darunter litt, daß einen jeder Scheiß interessierte. Aber sobald man einmal zufällig etwas von einem Thema verstand oder, Gott behüte, selbst Gegenstand der Darstellung war, ging einem auf, wie wenig das Geschriebene mit der Wahrheit zu tun hatte (und am falschesten war immer das fast Richtige). Wie oft litt er unter dem quälenden Drang zu berichtigen und beneidete die großen Diktatoren der Welt um ihre guten Kontakte zur Presse.

Noch eine Gesetzmäßigkeit: Was in einer Zeitung stand, stand auch in einer anderen Zeitung. Sprach eine Zeitung ein Thema an, ohne daß es von anderen Zeitungen aufgegriffen wurde, schämte sie sich wie ein Partygast, der so forsch gewesen war, einen Satz in die Runde zu werfen, und nicht mit der Peinlichkeit des Ignoriertwerdens gerechnet hatte. Auf keinen Fall durfte man als letzter über etwas berichten, obwohl man doch dadurch bewiesen hätte, daß man sich mehr Zeit zum Nachdenken nahm als die anderen. Das Aktualitätsprinzip ging von der falschen Annahme aus, das Leben sei eine lineare Erzählung. Dabei spiegelte sich jeder Moment in jedem anderen Moment, und diese ineinandergreifenden Schichten erzählerisch zu bewältigen, wäre eine Aufgabe gewesen. Sein ganzes Leben war aktuell, weil es ihm jederzeit durch den Kopf ging und weil jede Erinnerung auf andere Erinnerungen verwies. Deshalb war jede ältere Ausgabe einer Zeitung interessanter als jede aktuelle.

Am lächerlichsten war das Aktualitätsprinzip im Literaturteil, der sich mit den Neuerscheinungen befaßte, statt den unendlichen Fundus längst vorliegender und völlig zu Unrecht vergessener Literatur zu sichten. Für die meisten Zeitungsleser war Dichtung und Wahrheit doch eine Neuerscheinung, also warum keine Rezension darüber?

Er konnte sich keinen entfremdeteren Beruf darstellen als den des Journalisten. Das Edelste am Menschen, seine Sprache, zu unterdrücken, um Gebrauchstexte zu verfassen, die schon am nächsten Morgen überholt wären und über die man keine Autorität besaß, so daß sie nach Belieben gekürzt und umformuliert wurden, je nach Auftragslage der Anzeigenabteilung, die eventuell kurzfristig mehr Platz für ein angeblich den Verkauf eines doch ohnehin überflüssigen Produkts ankurbelndes Foto verlangte! Jeder Mensch hatte doch das Recht, auf seine Arbeit stolz zu sein, und hier wurde ein mühsam Hervorgebrachtes von anderen lässig beschnitten und wie zum Hohn unter dem Namen seines entmündigten Autors abgedruckt.

Man konnte einwenden, die Zeitungen würden der Wahrheit zu ihrem Recht verhelfen. Aber war es nicht so, daß man, je tiefer man in ein Thema eindrang, um so weniger eine Aussage dazu machen konnte? Am Ende blieb stets nur, den Prozeß des Scheiterns zu dokumentieren, und das war Literatur. Journalisten dagegen trauten sich die erstaunlichsten Urteile zu, als seien sie Krisengebiete abgrasende Wahrnehmungsautomaten, deren Kriterien und Urteilsvermögen ihnen anscheinend angeboren waren. Das einzige Krisengebiet, aus dem er sich nach jahrelangen Recherchen vorsichtig zu berichten angemaßt hätte, war er selbst.

Sicher gerieten auch in die Zeitung interessante Beiträge. Aber es war wie ein Zwang, daß er sie für später beiseite legte und sich zunächst gierig den anderen Artikeln widmete, die nicht unwichtig genug sein konnten, um ihn zu interessieren. Seinem Lebensziel, einmal mehr Papier aus der Wohnung hinaus- als hineinzutragen, kam er nicht näher. Um seinen Arbeitsplatz wuchsen, von ihm mit Mißtrauen beäugt, Stapel von Zeitungen, die er regelmäßig durchsah und nach noch strengeren Kriterien aussiebte. Einer bestand allein aus Artikeln, die ihm seine Mutter monatlich aus ihrer Welt in seine sendete. Wenn er sich die Themengebiete als Ecken eines Polyeders vorstellte, dann befand er sich nach ihrer Meinung wohl in dessen Mitte:

– Erlebnisbericht aus dem Kessel von Stalingrad

– Artikel über bedrohlich steigende Kosten in der Altenpflege

– Artikel über verfallende Gutshäuser in Ostpreußen

– Porträt Judith Hermann (Tagesspiegel)

– Interview Judith Hermann (Berliner Zeitung)

– Polnische Kochrezepte (Märkische Oderzeitung)

– Artikel über Rettungsmaßnahmen am Mont St.-Michel

– Artikel über einen Mann, der sich bei der Arbeit mit dem Laptop die Hoden versengt hatte

– Kritik Judith Hermann (Mannheimer Morgen)

– Kritik Judith Hermann (Ostpreußenblatt)

– Artikel über einen Mann, der freundlicherweise Touristen durch die Grünanlagen Berlins führt

– Artikel über alleinerziehende Männer

– Artikel über den New-York-Marathon

– Artikel über Fortschritte in der Haarausfallforschung (Barmer-Mitgliederblatt)

Er las jeden dieser Artikel, weil er durch einen seltsamen Defekt dazu gezwungen war, sich für alles auf der Welt zu interessieren. Nur daß er sich schon direkt nach der Lektüre an nichts mehr erinnerte. Deshalb mußte er selbst die gelesenen Artikel aufheben. Er fand für sich die Lösung, alles abzuschreiben. Erst wenn etwas in seinen Text einging, konnte er es wegwerfen, dasselbe galt ja für gescheiterte Liebesbeziehungen. Aber der Ekel an der Sprache war überwältigend. Nur im Ausland blieb dieser Ekel wie durch ein Wunder aus. Vielleicht, weil man hier nur zu Gast war. Eigenheiten, die man an den eigenen Familienmitgliedern nicht ertrug, beobachtete man an fremden Menschen mit Wollust.

Sein Traumberuf war ihm eines Tages klar geworden, als er in der taz die Rubrik mit Zitaten aus der internationalen Presse entdeckte. Bezahlter Zeitungsleser zu sein, die besten Zitate für ein deutsches Publikum zu übersetzen und dabei auch noch seine Sprachkenntnisse zu verbessern! Er setzte einen Brief an die taz auf, in dem er ihnen (denn bei dieser Zeitung arbeiteten nur nette Leute, die sicher mit jedem Leser, und gerade mit ihm, gerne befreundet gewesen wären) in schalkhafter, aber durchaus ernstgemeinter Weise vorschlug, diese Kolumne in Zukunft für sie zu übernehmen.

Auf den Brief erhielt er nie eine Antwort.

II. Für Zeitungen schreiben macht krank

Einmal in der Zeitung stehen, das war schon immer sein Traum gewesen. Als ihm das bei der Zeitung Der Morgen zum ersten Mal gelang, war er überzeugt davon, daß die Auflage an diesem Tag gestiegen war, weil er an der Ausgabe mitgewirkt hatte, natürlich noch nicht mit einem richtigen Artikel, aber immerhin hatte sein Name in der Gewinnerliste des Wochenendkreuzworträtsels gestanden.

Damit hatte er Blut geleckt, aber erst Jahre später erschien sein erster Text, eine Ballade über Mike Tyson, der Evander Holyfield ein Ohr abbiß, in der Zeitschrift Boxsport. Obwohl die Ausgabe fünf Mark kostete, kaufte er ein Dutzend Exemplare, schlug eines davon mit zitternden Händen einen Spalt weit auf und schielte hinein. Erschüttert ging er nach Hause. Er schaffte es nicht, das zu lesen, es war ihm zu peinlich, sich so vor den Augen der Welt entblößt zu haben, mitten in der Zeitschrift Boxsport.

Als Honorar standen ihm 20 Mark zu, seine Zeilen wurden wie die eines gewöhnlichen journalistischen Traktats bewertet, obwohl man sie mit Gold hätte aufwiegen müssen. Immerhin rief der Redakteur noch einmal an und ermutigte ihn, am Ball zu bleiben und weiter für sie zu schreiben, »natürlich pro Boxen«. Dazu kam es nicht, dafür erhielt er Jahre später eine Einladung zu einer Gläubigerversammlung, die Verlagsgruppe von Boxsport hatte Konkurs angemeldet. Angeblich schuldeten sie ihm immer noch 20 Mark Honorar. Er verzichtete darauf, ihnen den Gnadenstoß zu versetzen und sein Geld zu verlangen. Aber es war nicht das letzte Mal, daß Zeitschriften eingingen, nachdem sie ihn veröffentlicht hatten.

Seine journalistische Karriere legte eine Pause ein, bis eines Tages ein Anruf von der taz kam. Der Redakteur bat ihn um einen Artikel über ein neues Krematorium im Berliner Osten. »Ich will die Story!«, rief er ins Telefon, denn kein Thema als der Tod schien ihm besser geeignet für seinen Einstieg bei dieser Zeitung. Als er das Krematorium besichtigen wollte, sah er durch die Scheiben in eine gewaltige leere Betonhalle und fand den Eingang nicht. Als er von drinnen Schritte hörte, machte er sich schnell davon.

Der Redakteur rief ihn immer wieder an, und er vertröstete ihn. Immerhin hatte er schon drei Seiten geschrieben, allerdings eher allgemeine Betrachtungen zum Tod.

»Ich will auf keinen Fall drängeln, aber wann können wir denn mit deinem Text rechnen?«

»Ich bräuchte noch vier Wochen.«

»Gut, dann plane ich ihn jetzt aber fest ein.«

Er saß in der Falle, er hatte nur noch vier Wochen und wußte gar nicht, wo der Eingang war.

Zum mühsam organisierten Besichtigungstermin kam er zu spät, eine Gruppe Brandenburger Friedhofsverwalter, die er erst für Architekturexperten gehalten hatte, fachsimpelte schon angeregt. Als die Chefin des Krematoriums erschien, fragte sie streng: »Wer von Ihnen ist denn der Herr von der Zeitung?«

Ihre Worte hallten bedrohlich durchs Trauergewölbe, alle drehten sich zu ihm um, als hätte sie gesagt: »Einer hat leider den Klassendurchschnitt gedrückt.«

Er war, wie er erfuhr, in einen politisch brisanten Fall geraten, denn während den Friedhofsverwaltern ständig die Mittel gekürzt wurden, hatte das Krematorium, das vom selben Architekten stammte wie das Kanzleramt und entsprechend groß geraten war, Millionen gekostet. Und wegen schwerer Baumängel war es noch nicht einmal voll betriebsbereit. Überhaupt gab es in Berlin gar nicht genügend Tote, zumal die verbrecherischen Bestattungsunternehmer ihre Kunden zu Discountpreisen in Polen einäschern ließen, was einer gewissen Ironie nicht entbehrte.

»Der Herr von der Zeitung, das schreiben Sie aber nicht!«

Wieder drehten sich alle zu ihm um.

Was sollte er denn schreiben, wenn ihm die interessanten Fakten verboten wurden? Die Krematoriumschefin hätte es offenbar am liebsten gesehen, wenn er in seinem Artikel Werbung für ihr Krematorium gemacht hätte. Es war ja auch zweifellos ein hervorragender Ort, um sich einäschern zu lassen, sogar der Rauch wurde in einer Hightech-Anlage nach den strengsten EU-Schadstoffnormen gefiltert, aber die taz hatte doch nur 60.000 Abonnenten, damit wäre das Krematorium bei seiner Kapazität gerade mal ein halbes Jahr über die Runden gekommen.

Er brachte es trotzdem auf sechs Seiten und erwartete allgemeine Dankbarkeit. Statt dessen meldete sich der Redakteur, er müsse den Text mindestens um die Hälfte kürzen. Was für Krämerseelen! Sie rechneten in Zeilen statt in Gedanken! Dann sollten sie ihre Zeitung eben einmal ein bißchen dicker machen oder den Politikteil weglassen, was da stand, konnte man doch auch im Videotext nachlesen.

Er lernte schnell, solche beleidigenden Eingriffe klaglos hinzunehmen. Die Titel wurden immer geändert, da legten die Redakteure ihren ganzen kreativen Ehrgeiz hinein, gekürzt wurde auch immer und oft erstaunlich zielsicher genau die Pointe. Und er durfte nicht »ich« sagen, weil das ein ungeschriebenes Gesetz des Journalismus so verlangte. Als hätte das Weglassen des Pronomens den Text weniger subjektiv gemacht! Aber im Grunde war es ja eine Herausforderung, solche ihm völlig willkürlich erscheinenden Spielregeln zu akzeptieren, die literarische Avantgarde hatte sich in diesem Jahrhundert auch lange damit vergnügt, sinnlose Regeln zu erfinden, um sie schreibend zu befolgen. Statt wie gefordert 10.000 Zeichen gab er 9.999 oder 12.345 Zeichen ab. Und warum nicht neben dem »ich« noch ganz andere Wörter vermeiden? Zum Beispiel alle, die mit »E« anfingen? Unbemerkt von der Öffentlichkeit wurden seine Texte mehr und mehr zu literarischen Experimenten.

Allerdings konnten den Eingriffen der Redakteure nicht nur Personalpronomen, sondern auch der Sinn ganzer Aussagen zum Opfer fallen. In einem Artikel erwähnte er, daß seine Klasse zu DDR-Zeiten das bei einem Ernteeinsatz verdiente Geld für Solidarität mit den hungernden Polen spenden wollte. In der Zeitung stand dann, daß seine Klasse beschlossen hätte, das Geld für Solidarność zu spenden, was in den Achtzigerjahren in der DDR eine kühne Geste gewesen wäre.

Es konnte nicht ausbleiben, was eines Tages geschah: Als einmal ein Text über Kara Ben Nemsis Wunderwaffen und den Afghanistankrieg erscheinen sollte, erhielt er am Abend vorher einen Anruf von der betrübten Redakteurin: »Hier ist leider ein kleines Malheur passiert. Keine Angst, wir bringen deinen Text, aber leider unter Falko Hennigs Namen. Ich hoffe, du bist nicht sauer. Falko Hennig ist doch auch nicht schlecht als Name …«

Nein, das war doch eine Ehre. Hauptsache, die Worte stammten von ihm. Danach vermied er es, wenn möglich, seine Artikel noch einmal zu lesen. Unvergeßlich der Tag, als er einen Herpesausbruch bekommen hatte, genau in dem Moment, als er in einem Artikel eine unabgesprochene Änderung entdeckte, die ihm stilistisch so peinlich war, daß er sich tagelang nicht aus dem Haus traute.

Warum schrieb er dann trotzdem weiter für die Zeitung? Weil er sich jedes Mal ärgerte, wenn ein Fremder sich über etwas äußerte, das ihm am Herzen lag. Über eine vergessene Stadt, die er wiederentdeckt hatte, über ein Buch, das er für überschätzt hielt, über einen Film, der, leidenschaftlich gelobt, mehr Zuschauer finden und vielleicht die Welt verändern würde. Er konnte es einfach nicht ertragen, daß sich andere in seine Angelegenheiten mischten.

Ja, will er denn, daß alle Artikel von ihm sind? Selbstverständlich! Interview, Porträt, Fotoserie, Kommentar, Glosse, Editorial, ja, auch die Leserbriefe, alle von ihm! Er will keinen Artikel mehr von jemand anderem lesen, es sei denn, er beginnt mit den Worten: »Bezugnehmend auf den jüngst in diesem Blatt erschienenen Artikel von Jochen Schmitt und in untertänigster Verbeugung vor der Großzügigkeit und Güte seiner Majestät möchten wir hier ein paar zugegebenermaßen völlig überflüssige Anmerkungen wagen.«

Damit könnte er leben.

III. Ein Witz

Treffen sich zwei Journalisten in Bosnien.

»Seit wann bist du hier?«

»Seit gestern.«

»Und wann fährst du wieder?«

»Morgen.«

»Und woran arbeitest du?«

»An einem Artikel: ‚Bosnien – gestern, heute und morgen‘.