: Unbedingt abwehrbereit
Der „Spiegel“, erregt über den „Schleuser-Skandal“ und die „Pflichtvergessenheit auf allen Ebenen“, schießt aus allen Rohren. Ausländer haben Anlass, beunruhigt zu sein – der Tenor der „Spiegel“-Berichterstattung weist darauf hin, dass ihnen demnächst rauer Wind entgegenschlagen wird
VON BETTINA GAUS
„Monatlich kamen weiter Tausende illegal über die Grenze. Sie mussten nicht einmal die Oder durchschwimmen oder sich im Schutz der Nacht ins Land schleichen: Sie brauchten nur zur Botschaft in Kiew, Minsk oder Moskau zu gehen und sagen, dass sie gern den Kölner Dom besichtigen würden.“ So sieht er aus, der „Schleuser-Skandal“, den der Spiegel in dieser Woche aufdeckt.
Moment: Worin genau bestand nun also der Skandal? Darin, dass Touristen, die den Kölner Dom besuchen wollten, dafür nicht mehr durch die Oder schwimmen mussten, sondern ein Visum bekamen? Und waren sie dann – horribile dictu! – vielleicht gar nicht „illegal über die Grenze“ gekommen? Sondern eben ganz legal? Egal. Mit solchen Spitzfindigkeiten hält sich der Spiegel nicht auf. Ihm geht es ums große Ganze.
Das Nachrichtenmagazin bezeichnet die Praxis der Visavergabe an deutschen Botschaften in Osteuropa als „Musterbeispiel einer virtuellen Politik“ und legt auch die Wurzeln dieser „Pflichtvergessenheit auf allen Ebenen“ schonungslos bloß: das diffuse Wir-Gefühl der 68er, denen es schwer falle, „zwischen Weltoffenheit und naiver Multikulti-Folklore zu unterscheiden“. Anders ausgedrückt: Reisende, wollt ihr nach Deutschland, so zieht die Badehose an.
Es ist gut möglich, dass der Untersuchungsausschuss, der mit dem Visa-Erlass des ehemaligen Staatsministers Ludger Volmer befasst ist, den Vorwurf sachlich untermauert, Schleusertum, Schwarzarbeit und illegale Prostitution seien erleichtert worden. Wahr ist auch, dass die Verantwortung für das, was in einem Ministerium geschieht, beim jeweiligen Minister liegt. Zu Recht ist daher Joschka Fischer auf dem Titelbild des Spiegels abgebildet und nicht Ludger Volmer. Dessen geschäftliche Aktivitäten verdienen es übrigens, gründlich durchleuchtet zu werden. Derzeit spricht manches dafür, dass sie – zumindest – unappetitlich sind.
Viel Stoff also für ausführliche, nüchterne Berichterstattung. Doch darum scheint es dem Spiegel nicht zu gehen. Das Nachrichtenmagazin nimmt vielmehr die Affäre zum Anlass, aus allen Rohren zu schießen: nämlich gegen den „Traum von einer Welt ohne Grenzen“. Wer den – angeblich – träumt, steht fest: die Grünen. Ein Auszug aus ihrem Grundsatzprogramm wird mit einer fettgedruckten Zwischenüberschrift ohne jeden weiteren Bezug zum Visa-Erlass in die Chronologie der Affäre aufgenommen. „Eine Festung Europa haben wir immer abgelehnt“, ist da unter anderem zu lesen. Ein Zuhälter, wer diese Position teilt?
Das Magazin, das nach wie vor als seriöse Informationsquelle gilt, arbeitet mit dem Appell an weit verbreitete Ressentiments gegen „die Politiker“ und deren vermeintliche Privilegien. Weit mehr als mit Fakten. Weder fehlt der biografische Hinweis auf den „ehemaligen Taxifahrer und Schulabbrecher“ Joschka Fischer noch der auf Dienstwagen und Sekretärin, über die der Staatsminister Ludger Volmer verfügen konnte. Welche Funktion sollen letztgenannte Hinweise erfüllen?
Es ist zu bezweifeln, dass es der Spiegel tatsächlich für angemessen, politisch wünschenswert und effizienzsteigernd hielte, wenn Staatsminister des Auswärtigen Amtes sich mit ihren Führerscheinen persönlich in die Warteschlange für Leihwagen einreihen müssten. Oder wenn sie ihre Sekretärinnen über Zeitarbeitsfirmen zu beziehen hätten. Oder wenn Minister als Mindestqualifikation künftig ein Abitur vorweisen müssten. Welche Funktion sollen also derlei, nur scheinbar irrelevante, Seitenhiebe erfüllen – wenn nicht die der politischen Demagogie?
Die Bemerkung, in die Zeitung von heute werde doch morgen der Fisch eingewickelt, geht in diesem Zusammenhang an der Sache vorbei. Nicht nur deshalb, weil die Papierbeschaffenheit des Spiegels dafür ungeeignet ist. Wenn Medien nur über einen Bruchteil der ihnen oft zugeschriebenen Macht verfügen, dann lohnt es gelegentlich, ihren Geschichten ebenso große Aufmerksamkeit zu widmen wie der Rede eines Spitzenpolitikers. Denn Politik kann eben auch von Fernsehen und Zeitungen gemacht werden.
Der Spiegel ist weder ein Provinzblatt noch eine Parteizeitung, sondern ein unabhängiges, einflussreiches Massenmagazin. Ausländer haben nun Anlass, beunruhigt zu sein. Der Tenor des Titels über den so genannten „Schleuser-Erlass“ weist darauf hin, dass ihnen demnächst rauer Wind entgegenschlagen wird. Nicht zum ersten Mal übrigens.
„Ausländer sind im Schnitt krimineller, da hilft kein Schönreden“, befand der Spiegel bereits im November 1998. Knapp fünf Jahre später sorgte sich das Magazin um die Gefühlslage der Nation: „Vielen Deutschen macht der Bauboom der muslimischen Gemeinden Angst.“ Offenbar nicht grundlos: „Prozesse um die Frage, ob eine fremdartig wirkende Moschee in die Gegend passe, entschieden die Gerichte fast immer zu Gunsten der Muslime.“ Die Religionsfreiheit ist halt ein Kreuz.
Zurück in die Gegenwart. Welche Auflagen soll denn jemand aus der Ukraine erfüllen müssen, wenn er tatsächlich den Kölner Dom oder einen alten Studienfreund besuchen möchte? Vermutlich zeugt allein die Frage aus Sicht der Spiegel-Redaktion von einer naiven Hinwendung an Multikulti-Folklore. Wer hätte je davon gehört, dass auch Osteuropäer einfach gerne mal reisen, Musik als Mitglied eines kleinen Orchesters machen oder Bekannte besuchen wollen!
„Anfang September 1999 wurden die Botschaften angewiesen, die Verpflichtungserklärungen, mit denen Gastgeber für ihre Gäste finanziell geradestehen, auch dann zu akzeptieren, wenn die Ausländerämter in Deutschland die Vermögenslage des jeweiligen Gastgebers nicht überprüft hatten.“ Teilt der Spiegel mit. Wie hätte er es denn gern? Muss jede Deutsche, die eine Freundin aus Tansania, Vietnam oder eben der Ukraine einlädt, nicht nur bereit sein, im Notfall alle Kosten zu übernehmen – sondern auch noch akzeptieren, dass ihre Vermögenslage vom Ausländeramt überprüft wird?
Einen Ausweg könnte ein vom ADAC angebotenes Versicherungspaket bieten, das sicherstellen soll, dass ein Ausländer während eines Deutschland-Besuchs in keinem Fall dem deutschen Steuerzahler zur Last fällt. Das gefällt dem Spiegel aber auch nicht. Denn dann werde ja auf die „Prüfung der Rückkehrbereitschaft“ des Gastes verzichtet und selbst der Grund für die Reise werde „nicht mehr hinterfragt“.
„Den Eiffelturm zu sehen ist kein Menschenrecht.“ Mit diesem Satz begründete vor einigen Jahren ein französischer Konsularbeamter gegenüber einem jungen Kenianer seine Weigerung, ein gültiges Visum für Frankreich, das aus organisatorischen Gründen bis dahin nicht in Anspruch genommen worden war, um ganze zwei Tage zu verlängern. Ein weitsichtiger Mann. Der Spiegel hätte ihn vermutlich gepriesen, hätte er ihn gekannt. Schlagt die Feinde des alten Europa, wo ihr sie trefft. Oder vermutet.
Der Spiegel kämpft jetzt an vorderster Front. In die Chronologie der Visa-Affäre ist auch ein Zitat von Joschka Fischer aufgenommen worden, in dem er sich für die EU-Osterweiterung ausspricht. „Wer wirtschaftliche Stabilität und wirtschaftlichen Fortschritt will, braucht keine Abschottung, sondern Handel und Wandel.“ Wenn schon ein solcher Satz verdächtig macht, dann wird das in den nächsten Jahren nett mit der Globalisierung. Aber vielleicht hilft ja die deutsche Leitkultur gegen die Misere der Konjunkturkrise.
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