: Die Sonne von Wüsting-Hude
WANDERSCHAFT Der Daumenkinematograph Volker Gerling geht mit seinen Daumenkinos von Oldenburg nach Rostock. Verliert auf der ersten Etappe eines und findet ein glückliches Paar. Und die Sonne. Wanderschaftstagebuch, Teil I
■ Jahrgang 1968, hat ein Kamerastudium absolviert und arbeitet seit 1998 als Daumenkinomatograph. Er wandert regelmäßig über Land, zeigt den Leuten seine Daumenkinos und macht unterwegs Fotos für neue.
VON VOLKER GERLING
Mit einem Bauchladen, auf dem sechs meiner Daumenkinos liegen, gehe ich regelmäßig auf Wanderschaft. Ich reise zu Fuß und zeige sie den Leuten am Straßenrand und über den Gartenzaun, besuche Dorffeste und führe meine Bilder abends in Kneipen vor. Diesen Sommer laufe ich von Oldenburg über Bremen, Hamburg, Lübeck und Wismar nach Rostock.
Als ich aus dem Fenster sah, regnete es schon wieder. Ich zögerte, aber dann fasste ich den Entschluss, loszulaufen. Für mich war die Zeit gekommen, Neues zu sehen. Irgendwann würde der Regen schon aufhören. Ich hatte Oldenburg noch nicht verlassen, da rutschte mir ein Daumenkino unbemerkt von meinem Bauchladen. Als ich es endlich realisierte, riss ich das Regencape, das meinen Bauchladen vor dem Regen schützte, hoch und starrte auf die Lücke zwischen den verbliebenen fünf Daumenkinos.
Der Schreck saß so tief, dass ich eine lange Minute brauchte, um herauszufinden, welches Daumenkino fehlte. Es war das Daumenkino von Alex, den ich vor drei Jahren am Dortmund-Ems Kanal getroffen hatte. Ich lief zurück und fand das Daumenkino auf einer roten, niedrigen Backsteinmauer. Es war ein wenig nass und aufgequollen, aber intakt.
Schlagartig wurde mir bewusst, wie viel mir meine Daumenkinos bedeuten und wie gerne ich sie Menschen zeige, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Unvorstellbar war mir der Gedanke, die Wanderschaft ohne Alex fortzusetzen. Euphorisch, das Daumenkino gefunden zu haben, lief ich acht Kilometer am Stück. Als ich hungrig wurde, machte ich Brotzeit auf einer Bank kurz vor Wüsting. Ein rothaariger, junger Mann, vielleicht 16 oder 17 Jahre alt, lief vorbei und grüßte. Meine Ausstellung, die neben mir aufgebaut war, beachtete er nicht.
Als ich wenig später zur anderen Seite der Bank hinüber schaute, sah ich ihn auf dem Fahrradweg stehen. Er umarmte eine junge Frau. Ohne sich zu streicheln oder zu küssen, hielten die beiden sich fest. Noch nie zuvor sah ich bei jungen Menschen eine solch ruhige und innige Umarmung. Wie lange hatten sie sich nicht gesehen?
Ich hätte sie gerne gefragt, doch bald darauf stiegen sie auf das Fahrrad, auf dem die junge Frau ihrem Freund entgegen gefahren war, und fuhren davon. Der Rothaarige trat in die Pedalen, seine Freundin saß im Damensitz auf dem Gepäckträger.
Am Ortsausgang ein Schild: Planetenlehrpfad Wüsting-Hude. Und tatsächlich stand hinter der nächsten Kurve die Sonne auf einer Weide. Vielmehr schwebte sie auf drei Stahlbeinen als gelbe Stahlkugel über den Köpfen einer Kuhherde.
Früher war die Sonne ein Raketentank gewesen und viel höher geflogen; hier aber hatte man sie eingezäunt, damit die Kühe ihr nicht zu nahe kommen und sie womöglich ganz hinab stoßen in irdischen Matsch. Ich machte ein Foto von mir und der Sonne und lief weiter bis zur Erde.
Die Erde war so klein, dass sie mit Leichtigkeit auf einem Fingernagel Platz gefunden hätte. Am liebsten hätte ich sie mitgenommen. Weiter ging es durch das Sonnensystem. Die Planeten zogen mit atemberaubender Geschwindigkeit an mir vorbei: Merkur, Venus, Mars. Autos, schneller als das Licht, donnerten über die Landstraße. Zwischen Jupiter und Saturn lag eine monströse Katze auf dem Fahrradweg, größer als alle Planeten zusammen. Ihr nasses Fell war schwarz-weiß gefleckt. Riesige Schnecken, jede so groß wie der Saturn, krochen, eine Schleimspur hinter sich herziehend, über den Kadaver. Als letztes (und beachtlich weit weg von der Kuhherde) passierte ich den Uranus und verließ das Sonnensystem. Hier könnte man auch schon aufhören.... die Entscheidung überlasse ich Ihnen!