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Archiv-Artikel

„Eine machtversessene Verantwortungslosigkeit“

Der linke Gewerkschaftskritiker Peter Grottian nennt die Einigung im öffentlichen Dienst einen Skandal. Denn sie schafft keine Arbeitsplätze

taz: Herr Grottian, stimmen Sie in den allgemeinen Jubel über die Tarifrechtseinigung im öffentlichen Dienst mit ein?

Peter Grottian: Nein, in keiner Weise. Unisono heißt es nun, es handele sich um ein großes Tarifwerk. Aber das ist ein falscher, vergifteter Jubel. Was mich am meisten erzürnt ist, dass noch nicht mal darüber debattiert wird, was an dieser Einigung falsch sein könnte. Denn tatsächlich handelt es sich doch hier um nicht viel mehr als um eine machtversessene tarifpolitische Verantwortungslosigkeit.

Warum?

Der entscheidende Punkt ist, dass man in diesen Tarifverhandlungen so getan hat, als ob es keine fünf Millionen Arbeitslose gebe. Und man hat überhaupt nicht daran gedacht, dass es in manchen Bereichen hoch defizitäre öffentliche Dienstleistungen gibt, bei Schulen, Universitäten, Jugend-, Sozial- und Migrationseinrichtungen, die dringend einer personalpolitischen Blutzufuhr bedurft hätten. Es wurde sich ebenfalls nicht darum gekümmert, dass es Ein-Euro-Jobber im öffentlichen und halböffentlichen Dienst gibt, denen man durch Tarifpolitik zu zumindest einigermaßen vernünftigen Teilzeitarbeitsplätzen verhelfen könnte. Und Einstellungskorridore für die jüngere Generation: totale Fehlanzeige. Kurz: Es handelt sich um eine Tarifreform und -verhandlungen ohne die Frage der Beschäftigung.

Sie sind also gegen die getroffenen Vereinbarungen?

Damit wir uns nicht missverstehen: Ich finde es gut, dass junge Leute mehr Geld bekommen. Ich finde es auch gut, wenn nach Leistung bezahlt wird. Gegen flexiblere Arbeitszeiten habe ich auch nichts einzuwenden. Die Angleichung der Ost- an die Westlöhne ist ebenso richtig. Aber man darf eben nicht anderes bewusst vernachlässigen.

Das wäre?

Der Skandal ist, dass sich die Tarifpartner einen Teufel darum gekümmert haben, wie die gesamtgesellschaftliche Situation aussieht. Es hätte einen beschäftigungs- und tarifpolitischen Beitrag des öffentlichen Sektors geben müssen. Dass man die Mischung von Tarifreform und Tarifverhandlungen nur zur Restaurierung der Wagenburg des öffentlichen Dienstes genutzt hat, ist angesichts der arbeitsmarktpolitischen Situation schlicht unverantwortlich. Wie will man eine Diskussion führen, wo man Arbeitgeber in dieser Republik auffordert, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, wenn man in dem Bereich, wo man auch politisch steuern kann, nicht zumindest einen beschäftigungspolitischen Beitrag leistet? Auch und gerade die Gewerkschaften haben hier versagt. Ich möchte Frank Bsirske nicht unterstellen, dass er keine beschäftigungspolitische Sensibilität hat. Aber ich gehe schon davon aus, dass hier nur einer bürokratischen Reformlogik gefolgt wurde.

Was hätte stattdessen vereinbart werden sollen?

Der öffentliche Dienst hätte zum Abbau der Arbeitslosigkeit einen Beitrag leisten müssen – und auch können. Es ist doch ein mittlerer Wahnwitz, zu hoffen, dass im Sinne der Agenda 2010 allein die Privatwirtschaft in der Lage ist, nennenswert Arbeitsplätze zu schaffen. Ich hätte zumindest die 1 Prozent Lohnsteigerung, die ja jetzt im Prinzip vereinbart worden ist, umgelegt auf Beschäftigung. So könnten 250.000 bis 350.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Was besonders skandalträchtig ist: Obwohl die Republik schreit, dass fünf Millionen Erwerbslose zu viel sind, kommt der fehlende beschäftigungspolitische Beitrag in der öffentlichen Debatte um diese Tarifeinigung überhaupt nicht vor. Es gibt leider eine Komplizenschaft zwischen Gewerkschaften, öffentlichen Arbeitgebern und auch dem Beamtenbund und einer schweigenden Öffentlichkeit.

INTERVIEW: PASCAL BEUCKER