Sammler und Trauerarbeiter

Über den 13. Februar wurde Matthias Neutzner zum Historiker. Seit Jugendtagen beschäftigt ihn das angemessene Erinnern an das Inferno

AUS DRESDEN MICHAEL BARTSCH

In diesen Tagen lässt Matthias Neutzner alle Journalistenanfragen von der Telefonzentrale abwimmeln. Der Geschäftsführer des kleinen Dresdner Michel-Sandstein-Verlag hat noch andere Aufgaben. Doch wenn Medien aus der halben Welt nachfragen, wer in Dresden dem braunen Missbrauch des Gedenkens an den 13. Februar 1945 etwas entgegenzuhalten hat, dann fällt sein Name eben immer als einer der ersten.

Neutzner ist nicht nur einer der Köpfe der „IG 13. Februar“, die im Vorjahr den „Rahmen des Erinnerns“ initiierte, eine Reihe von 60 Workshops, Lesungen, Ausstellungen und Installationen. Die Aktion wird heute von einem breiten Bündnis getragen, das dazu aufruft, am Sonntag eine weiße Rose als Friedenszeichen zu tragen. Aber nicht allein deswegen ist Neutzner über Dresden hinaus eine Autorität. Vor 20 Jahren hat der heute 44-Jährige mit der Sammlung von Erlebnisberichten der Literatur über das Inferno als Autor wie als Herausgeber eine neue Richtung gegeben.

An seinem bescheidenen Auftreten hat das nichts geändert. Ein ausgesprochen ernsthafter Mensch stellt sich einem vor. Tief sitzende Augen und scharfe Gesichtszüge unterstreichen den Eindruck. Beim Gespräch aber erlebt man auch einen heiteren, spontan sympathischen Mann. Der fünffache Vater passt in das Milieu des engagierten Dresdner Bildungsbürgertums, auch wenn er ursprünglich nicht von hier stammt. In Görlitz geboren, kam er mit neun Jahren nach Dresden und absolvierte die renommierte Kreuzschule. Und vielleicht hat sich aus diesen ersten auswärtigen Kinderjahren eine Restdistanz zu Dresden erhalten, die ihm die Reflexion erleichtert. „Die Symbolwerdung dieser Stadt nur wenige Tage nach ihrer Zerstörung konnte nur gelingen, weil es einen auch von den Bürgern verinnerlichten Mythos schon vorher gab.“ Für die Dresdner eine beinahe heilige Stadt und bis heute der Nabel der Welt – dieses hermetische Empfinden kann Trauerarbeit und eine ausgewogene Gedenkkultur auch behindern, deutet Neutzner an.

In Dresden konnte er als Arbeiterkind zunächst ein privilegiertes Studium an der Hochschule für Verkehrswesen beginnen. Ingenieur für Luft- und Raumfahrt, das durfte nicht jeder werden, damit war es aber bald vorbei, als einer seiner drei Brüder in dem Westen „abhaute“. Trotzdem reiche das nicht für eine Widerstandsbiografie, sagt er augenzwinkernd. Denn es bot sich bald die Chance für ein Zweitstudium der Informatik. Neutzner fand seine DDR-typische Nische Mitte der 80er-Jahre in einem Handwerksbetrieb – als einer der ersten Software-Entwickler.

Das eigentlich Wichtige aber machte man in der DDR nebenbei. Neutzners Interesse gehörte dem Theater und der Geschichte. Noch als Oberschüler hatte er 1978 das Gastspiel einer britischen Studententheatertruppe – das eher brechtisch verfremdete Spektakel „The destruction of Dresden“ – gesehen. Neutzner übersetzte es begeistert und wandte sich vollends dem 13. Februar 1945 zu. Mehr und mehr wurde ihm klar, dass es sich um ein unbewältigtes Trauma handelt. „Jahrzehntelang wurde den Bürgern vorgeschrieben, wie sie sich zu erinnern haben.“ Vor allem Zeitzeugenberichte vermisste er damals. Wohl gab es die Bücher von Weidauer, Vonnegut oder Irving, aber die Flut an Dresden-Literatur war noch nicht geschrieben.

Neutzner begann mit Freunden, Überlebende zu interviewen, Dokumente zu sammeln und suchte auch ungeniert Zeitzeugen wie den früheren sächsischen Ministerpräsidenten Max Seydewitz und Exoberbürgermeister Walter Weidauer auf. Doch das Stadtmuseum winkte ab, als er dort 1985 seine Berichte vorstellte. Neutzner ließ sich nicht aufhalten. Mit Hilfe des Luftkriegsexperten Olaf Groehler, damals Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften in Berlin, kam sein Geschichtskreis 1987 als „Fachgruppe 13. Februar“ beim Kulturbund unter. Damit war es auch möglich, einen Zeitzeugen über Zeitungsaufrufe zu suchen und kurz vor den Wende-Demos im September 1989 die erste Ausstellung „Lebenszeichen“ im Stadtmuseum einzurichten. Nach der Wende wurde Neutzner 1990 Geschäftsführer des auch um die Stadtgeschichte bemühten Sandstein-Verlags, die Fachgruppe besteht als Verein „IG 13. Februar“ seit 1991 weiter.

Die Interessengemeinschaft machte im Vorjahr wieder von sich reden, als das Ausmaß der rechtsextremen Präsenz viele aufschreckte. Gemeinsam mit anderen Friedensgruppen und der Stadt wurde der „Rahmen des Erinnerns“ erarbeitet. „Eigentlich ist es mir lieber, wenn sich solche Zeichen spontan ergeben“, kommentiert Neutzner den Aufruf zum Tragen einer weißen Rose. Aber so einfach darf man das Feld der symbolischen Politik nicht braunen Geschichtsverdrehern überlassen.

Neutzner will die Aktionen im „Rahmen des Erinnerns“ aber keineswegs nur als Reaktion verstanden wissen. „Es gibt eine umfassende Irritation über das angemessene Erinnern“, erklärt er. Für ihn gehört dazu auch eine neue Tendenz zur Selbstverklärung und Generalentschuldung. Doch er wagt die These: „Der Angriff auf Dresden war unmoralisch, aber nicht sinnlos, folgt man der fatalen inneren Logik eines totalen Krieges.“ Deshalb müsse derzeit vor allem Krieg und Gewalteinsatz generell problematisiert werden. Die Frage sei durch die gegenwärtige US-Strategie und globale Befriedungseinsätze sehr aktuell. Dann könne man auch das Exempel Dresden einordnen und leichter von Amoral und deutschem Leid sprechen, ohne in den Ruch von Nationalismus oder selektiver Geschichtsbetrachtung zu kommen.

Man spürt den friedensbewegten Mann der 80er-Jahre. Neutzner kann sich sogar vorstellen, den 13. Februar auch einmal als Tag des Dankes und der Freude für 60 Jahre Frieden zu feiern. Der Zeitzeugengeneration, und dazu gehören auch die Nachgeborenen, aber sei das noch nicht zuzumuten.