: Baldrianbeutel für den Eifeltiger
Die Eifel ist Deutschlands katzenreichstes Mittelgebirge. Biologen erforschen hier scheue Wildkatzen. Ihr Verbreitungsgebiet reicht bis Nordfrankreich
AUS NETTERSHEIM TORSTEN SCHÄFER
Langsam zeichnet er mit der Fingerspitze über den Bildschirm, bunte Kreise überziehen eine topographische Landkarte mit Bergen und Wäldern. „Sie durchstreifen zum Teil die selben Gebiete“, sagt Manfred Trinzen. Der Wildforscher arbeitet in der Biologischen Station des Kreises Euskirchen in Nettersheim. Die Kreise auf seinem Computerbildschirm markieren die Reviergrenzen von zehn Wildkatzen. Der Biologe hat mit ihnen in den vergangenen Jahren sein Leben geteilt. Von 2002 bis 2004 haben Manfred Trinzen und sein Team das Leben von ‚Felis silvestris‘ bis ins letzte Detail studiert.
Die Wissenschaftler haben die nachtaktiven Katzen in den Wäldern der Eifel gefangen, ihnen ein Halsband mit Sender umgelegt und sie wieder freigelassen. Stundenlang saßen die Forscher deshalb nachts in ihrem grünen Jeep und versuchten mit der Richtantenne, die Signale von Lukas, Kralle oder Karlchen in der Dunkelheit zu orten. „In den Winternächten war es ziemlich kalt,“ erinnert sich Manfred Trinzen.
Die Biologen fanden heraus, dass sich die Reviere von Wildkatzen stark überschneiden können, teilweise nutzen sie die gleichen Schlafplätze. „Bisher glaubte man, dass sie sich aus dem Weg gehen“, erklärt Trinzen. Die Reviere der Katzen sind bis zu 500, die der männlichen Kuder gar bis 2.000 Hektar groß. Bei ihren nächtlichen Jagdausflügen kommen die scheuen Waldbewohner nahe an die Ortschaften heran.
Wolfgarten oder Gemünd heißen die Dörfer im Eifeler Wildkatzenrevier. Dichter Tannenwald steht hier. Kleine Straßen winden sich über einsame Bergkämme wie den „Kermeter“, der steil hinabfällt bis zu den Ufern des dunkelblauen Fjordes unten im Tal, dem Rursee.
Vor Jahrhunderten wuchs hier ein Urwald aus Buchen und Eichen, die mit dichtem Moos bewachsen waren. Die Wildkatze war nur eines der Raubtiere, das durch die Eifelwälder zog. Wolf, Bär, Luchs – nicht nur hier hat der Mensch sie ausgerottet. Für 1885/86 verzeichnete die Jagdstatistik des Königreichs Preußen 606 erlegte Wildkatzen – die Hälfte wurde im Rheinland zur Strecke gebracht.
Die Wildkatze wurde noch Ende des 19. Jahrhunderts in der Fachliteratur zum blutrünstigen Raubtier stilisiert, das Hirsche und Rehe in Massen reißt. Dabei frisst sie fast nur Mäuse – bis zu sechs pro Stunde, wie Manfred Trinzen herausgefunden hat. Nur äußerst selten wagt sich der Eifeltiger an größere Tiere wie Kaninchen oder Vögel heran.
Die Jagd mit Schrotflinte, Giftködern und Schlagfallen und die Rodungen der Wälder setzten der Wildkatze in Deutschland mächtig zu. Um 1900 war sie fast ausgerottet. Nur in Mittelgebirgen wie Eifel, Hunsrück, Harz und Pfälzer Wald überlebten kleine Populationen. Heute gibt es in der Bundesrepublik wieder bis zu 5.000 Exemplare der gefährdeten Art, die in fast ganz Europa verbreitet ist.
In der Eifel lebt Deutschlands stärkste Wildkatzenpopulation. Schätzungsweise 1.000 Tiere durchstreifen das Mittelgebirge in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. „Die Eifel ist Teil des größten Verbreitungsgebietes in Mitteleuropa, zu dem auch Belgien, Luxemburg und Nordostfrankreich gehören“, sagt Trinzen.
Tagsüber können Wildkatzen in Hecken oder den Wurzeln umgefallener Bäume dösen. Im Wurzelwerk oder den Höhlen der Bunkeranlagen des Westwalls ziehen sie ihre Jungen groß. Wenn Manfred Trinzen im grünen Forschungsjeep in der Nähe der Bunker und Panzersperren parkte und die Richtantenne ausfuhr, empfing er immer wieder die Signale seiner Katzen. Nun kritisieren die Biologen aus Nettersheim, dass immer mehr Westwall-Bunker eingeebnet werden. In einer Studie haben sie ihre Bedeutung für den Naturschutz herausgearbeitet – auch vom Aussterben bedrohte Fledermäuse leben in den Bunkerhöhlen. „Wir müssen die Bunker für den Artenschutz unbedingt erhalten“, fordert Trinzen.
Erst vor wenigen Wochen barst wieder der Beton: Im Auftrag der Bundesanstalt für Immobilienangelegenheiten wurden 17 Bunker bei Aachen zerstört (taz berichtete). Weil sich Wanderer in den alten Anlagen verletzen könnten, sollen die Bunker weichen. Wie groß der Schaden für die Wildkatzen ist, die Schlafplätze und Kinderstuben verlieren, ist noch unklar. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) will jetzt die Bestände bedrohter Arten in den Bunkern genauer erfassen und hat darauf hingewiesen, dass die Zerstörung der Bunker rechtswidrig sei. Geschützte Arten wie die Wildkatze würden gefährdet.
Um ein genaues Bild von der Wildkatzenpopulation im Nationalpark Eifel zu bekommen, stellen die Biologen ihren Schützlingen mit Fotofallen nach. „Wir erfassen so ihre genauen Aufenthaltsorte“, erklärt Trinzen. Die Kamera steht auf einem Ständer, ein mit Baldrian getränkter Teebeutel lockt die neugierigen Katzen an. Sind sie nahe genug herangekommen, schnappt die automatische Fotofalle zu. In einem Minirechner werden Uhrzeit und Datum gespeichert. „Manche Katzen reagieren auf den Blitz und schauen direkt in die Kamera“, erzählt Manfred Trinzen. Andere haben es auf das Baldriansäckchen abgesehen und zerren daran. Im nächtlichen Eifelwald laufen auch Rehe, Wildschweine, Marder und Eichhörnchen vor die Kamera der Forscher und lassen sich ablichten. Der eine im Vorbeigehen, der andere eher in verdutzter Pose.
Das Leben der Wildkatze ist in Deutschland kaum erforscht. Ende Januar trafen sich die Katzenforscher, um ihr Wissen auszutauschen. Als sicher gilt, dass der Lebensraum das Jagdverhalten bestimmt: In den nahrungsarmen Fichtenwäldern der Eifel leben nur wenige Kleintiere. „Deshalb jagen unsere Katzen am Waldrand und auf Wiesen“, erläutert Trinzen. Im Nationalpark Hainich in Thüringen geht ‚Felis silvestris‘ dagegen in lichten Buchenwäldern auf die Jagd, in denen Mäuse genug Nahrung finden. Beobachtungen aus mehreren Bundesländern zeigen, dass sich Wildkatzen entgegen früherer Befürchtungen nur selten mit umherziehenden Hauskatzen kreuzen. Der Biologe Mathias Herrmann hat in Rheinland-Pfalz festgestellt, dass es oft zu wenige Verstecke für die Aufzucht der Jungen gibt. „In unseren modernen Wäldern fehlen alte Bäumen mit Hohlräumen“, sagt er. Immerhin: Im Nationalpark Eifel werden urige Baumriesen nicht mehr gefällt. Totes Holz bleibt im Wald, der wieder ein Urwald werden soll. Aus den dichten Tannenschonungen, durch die kaum ein Sonnenstrahl dringt, sollen mit der Zeit wieder weite Buchenwälder werden, die das Licht durchlassen. Statt einer trockenen Nadelwüste, die den Boden versäuert, sollen Farne, Moose und Orchideen, die heimlichen Königinnen der Eifel, auf dem Waldboden wachsen. Und für den Mensch ist im Nationalpark nur noch auf den Wegen Platz.
Die Wildnis kehrt zurück und mit ihr die Tiere. Doch die Rückkehr ist gefährlich. Jedes Jahr werden Wildkatzen von Jägern geschossen, weil die Waidmänner sie mit wildernden Hauskatzen verwechseln. Aber wer genau durch sein Fernglas blickt, erkennt die Unterschiede: Die bis zu einem Meter lange, größere Wildkatze hat einen breiteren Kopf und einen dickeren Schwanz mit schwarzen Ringen und stumpfem Ende.
Nicht nur die Jagd ist ein Problem: Weil Wildkatzen nur einmal jährlich zwei bis drei Junge bekommen – von denen häufig eines stirbt – vermehrt sich die Art nur sehr langsam. „Aber das größte Problem ist die Zerschneidung der Lebensräume“, sagt Mathias Herrmann. Straßen und Siedlungen sind oft unüberwindbare Hindernisse für die Wildkatze. Jedes Jahr werden Tiere überfahren, wenn sie versuchen, Autobahnen und Bundestraßen zu überqueren. In Rheinland-Pfalz wurden an mehreren Straßen spezielle Wildkatzenzäune errichtet. Nur an zentralen Durchlässen können die Raubtiere die Straßen über bewachsene Grünbrücken passieren.
Die Forscher wollen nun die isolierten Verbreitungsgebiete der Wildkatze miteinander vernetzen. Die einzelnen Populationen müssten sich vermischen und ihren Genpool erneuern, um langfristig überleben zu können, erklärt Manfred Trinzen. Im Projekt „Rettungsnetz Wildkatze“ macht der BUND in Bayern, Hessen und Thüringen den Versuch, die Katzenbiotope über Grünbrücken miteinander zu verbinden. „Wollen wir die Wildkatze langfristig erhalten, müssen wir die großen Wälder vernetzen“, sagt Manfred Trinzen.
Die Geschichte von der Rückkehr der Wildkatze in die Eifel, sie geht vorerst weiter. Eine andere Geschichte beginnt gerade erst: Ob Europas größte Raubkatze in Nordrhein-Westfalen tatsächlich wieder eine Chance hat, kann zurzeit niemand sagen. Sicher ist, dass die ersten Luchse zurückgekehrt sind. Über das Hohe Venn sind die anmutigen Jäger mit den Pinselohren aus Belgien in die Eifel gewandert. Naturschützer und Jäger haben sie beobachtet. Auch Junge sollen dabei gewesen sein.
Vielleicht müssen sich also Lukas, Kralle und Karlchen, die Katzen von Manfred Trinzen, bald mit wesentlich größeren Raubkatzen um einen bequemen Schlafplatz unter einer Buchenwurzel, in einer Felsenhöhle oder an einem großen Weißdornbusch streiten. Dann wäre wieder ein neues, altes Wildtier in zurückgekehrt.