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Archiv-Artikel

Diktate und Lieblingsrollen

MIGRANTIN Die junge uigurische Künstlerin Suli Kurban verarbeitet in Theaterstücken für die Münchner Kammerspiele und Hörfunkinterviews ihre Lebenswelt als Flüchtling

„Mir ist nicht mehr peinlich, dass ich in einem Asylantenheim gelebt habe; ich habe behauptet, es sei eine Wohnung“

SULI KURBAN

VON JOHANNA SCHMELLER

Einen Moment ihrer Flucht hat sie nie vergessen, sagt Suli Kurban. Als die Uigurin zum ersten Mal ein Asylantenheim betrat, spätabends, hatte eine Mitarbeiterin drei Wassergläser bereitgestellt, für Suli, ihre Mutter und ihren Bruder, dazu Brot, Salz und Kartoffeln.

„Es war diese Geste, dass jemand daran gedacht hat, ob wir Hunger haben könnten.“ Es klingt immer noch berührt, und immer noch ungläubig. Suli zündet sich eine Zigarette an. Sie erzählt, wie ihr Schleuser von der Absperrung aus dem kasachischen Zollbeamten zugepfiffen hat, damit der sich die gefälschten russischen Pässe nicht ganz so genau vornimmt und die uigurische Familie passieren lässt: „Meine Mutter hat ihm alle Ersparnisse gegeben, damit er uns bis zum Flughafen begleitet.“ Sie bläst den Rauch in den Münchner Sommerhimmel und zieht ihr Shirt zurecht. „Milano New York Paris“ steht drauf.

Bayerisches Füllwort

Fast zehn Jahre ist es her, dass Suli geflohen ist, über Kasachstan und Frankfurt bis zu ihrer Tante nach München, wo mit 500 Mitgliedern die größte uigurische Gemeinde Europas lebt. Seither ist viel passiert. Deutsch spricht Suli akzentfrei, schickt ihren Sätzen manchmal ein bayerisches „weißt“ hinterher, überlegt wenig, redet drauf los. Suli Kurban treffen ist wie fliegen lernen, einem wird fast ein wenig schwindlig von ihrem Tempo.

An einem Sommernachmittag sitzt Suli, inzwischen 20 Jahre alt, regelmäßige Darstellerin der Münchner Kammerspiele, freie ARD-Reporterin und Trägerin des Civis-Medienpreises, quer auf einer Bank im Innenhof der „Hauptschule der Freiheit“, zwischen noch farblosen Sperrholzkulissen. Proben, Lernen für den Realschulabschluss, in Genua eine Fotoausstellung eröffnen – und das war nur die letzte Woche.

Nach „Bunnyhill“ und dem „Bastard-Festival“ sind die Kammerspiele erneut aus dem noblen Jugendstilhaus an der Maximilianstraße ausgerückt, hinein in städtische Milieus. „Freiheit“ steht in großen schwarzen Lettern auf dem Flachbau am stark befahrenen Schwabinger Ackermannbogen, wo ab heute Abend Experimentaltheater mit Hauptschülern stattfinden wird.

Björn Bicker, als Dramaturg bereits für die Stadtbegehung „Doing Identity“ verantwortlich, ist beteiligt, ebenso Christine Umpfenbach, die für ihr Stück „Fluchten“ vor einem guten Jahr Lebensgeschichten von Migranten zu Bühnentexten umschrieb, Malte Jelden, Peter Kastenmüller – eine erprobte Mannschaft, angetreten, um zu beweisen, wie Theater auf eine ganze Stadt ausstrahlen kann. Kurz vor der Premiere türmen sich vor der umfunktionierten „Hauptschule“ noch Kies, Schutt und Holzlatten. Das verrostete Eingangstor knarrt, fällt scheppernd hinter Besuchern ins Schloss. Keine zwanzig Meter ist der abgerockte Bau von einer pastellbunten Wohnsiedlung entfernt, von sonnenbeschienenen Bauklotzbauten mit Kugelgrills in den Vorgärten und Blick auf den Olympiaturm – zweckmäßig, puppenhaushaft, begrünt. Zwischen den Sperrholzbäumen führt Suli ein Hörfunkinterview mit Isra, einer irakischen Schülerin, die „auch zum Theater“ will und die die „unmotivierten Jungs“ in ihrer Klasse nerven.

Simulierter Unterricht

„Traumberufe“ wird ein Abend heißen, der ihre Lebenswelt aufgreift: die Frage nach der Perspektive. Schüler werden sich in Lehrer verwandeln und den eigenen Großeltern Unterricht in deutscher Geschichte erteilen. Deutschdiktate, Mädchengespräche, der Kampf von Lehrern gegen die kürbiskernknackende letzte Reihe sind andere Themen. Etliche Programmpunkte verweisen auf Kulturunterschiede, etwa auf den Religionsunterricht, Glücksvorstellungen und Sinnstiftung; im laufenden Schuljahr stammen immerhin 13 Prozent der bayerischen Hauptschüler aus Familien mit „nicht-deutscher Verkehrssprache“, wie es im Amtsdeutsch heißt. An bayerischen Gymnasien oder Realschulen sind es nur 4 Prozent.

Gefragt nach ihrer liebsten Rolle, zögert Suli. Scarlett O’Hara wäre das vielleicht, so verkitscht, so unabhängig. Sulis Mutter hat oft von ihr erzählt. In Deutschland nahm die ehemalige Managerin eines Großkonzerns Putzstellen an, belegte Integrations- und Sprachkurse. Über die Flucht hatte sie in China nie mit den Kindern gesprochen, bis die Lage – „unterdrückt sein, im eigenen Land!“ – unerträglich wurde. „Inzwischen ist es mir nicht mehr peinlich, dass ich in einem Asylantenheim gewohnt habe. Aber damals habe ich immer behauptet, wir leben in einer Wohnung“, sagt Suli. Nicht immer war sie mit ihren Eltern einer Meinung, und nicht immer ist es ihnen gelungen, die Tochter aufzufangen. „Schreib nichts weiter drüber“, meint sie heute, denn immer hat sie Menschen gefunden, die ihr geholfen haben. Drei Weichenstellungen in ihrem Leben? Das Stück mit Christine Umpfenbach, antwortet Suli Kurban sehr schnell, dann die Verleihung des Civis-Medienpreises und – „willste auch was Negatives hören? Nein, muss nicht? Na, dann auf jeden Fall die Frau, die uns damals das Brot hingestellt hat.“

■ „Hauptschule der Freiheit“. Premiere, 19. Juni, 16 Uhr ■ „Win-Place-Show“. Mit Suli Kurban. 20. Juni ■ „Draußen bleiben“. Regie: Alexander Riedel. Dokumentarfilm mit Suli Kurban. Deutschland 2008