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Archiv-Artikel

Ipsonische Felder

Ich bin Ipsonin-Püsanin, weil ich das gesetzliche Minimum an Kalendertagen, die magischen 10.000, auf ipsonischem Gebiet gelebt habe. Und weil ich die Wahrheit meines Volkes verstanden habe

VON EKATERINA BELIAEVA

Die goldenen Erntefelder sind ein Zeichen des Herbstes, die ruhenden Gärten gehören zum Winter, die Wandervögel bringen den Frühling, und die Sonne ist mit dem Sommer befreundet. Aber hier, in der Stadt, auch wenn wir das Glück haben, auf den zahlreichen Liegewiesen ein ganzes Vierteljahr lang die Beine ausstrecken zu können, entfremden wir uns von den Jahreszeiten. In dieser riesigen Betonburg, wo ich lebe, sind die Menschen das Maß der Zeit. Wenn die Passanten auf der Straße warm angezogen sind, ist es Winter; wenn sie Tannenbäume geschultert haben, ist bald Weihnachten. Und wenn es abends draußen von Menschen nur so wimmelt, die sich hier und da an den Häuserecken zusammenfinden, wo geöffnete Türen ins geheimnisvoll beleuchtete Innere einladen und wo sich heitere Versammlungen bilden, Wein und Whiskey aus der Flasche getrunken wird, dann ist Wochenende. Und höchste Zeit, sich zu entspannen und später vielleicht fortzupflanzen.

Am vergangenen Freitag habe ich mich verausgabt. Ich war überall und beobachtete die Gezeiten und Gestirne, bis mir die Augenlider müde wurden und ich gegen fünf ins Bett fiel. Ich träumte von einem kleinen, schwarz-weißen Hund, der laut bellend hinter mir her einen Hügel hinunterlief. Als ich mich umdrehte und die Hände ausbreitete, um das kleine Wesen aufzufangen, bevor es sich in ein rollendes Bällchen verwandelte und in den Abgrund stürzte, biss mir der Köter in die Hand und wollte nicht mehr loslassen. Beim Aufwachen stellte ich fest, es war bereits nach zwölf und draußen immer noch milchig trüb. Es war Februar. Um halb vier klarte es endlich etwas auf, die Sonne stand schon ziemlich tief, dort, wo die rechte Seite der Linienstraße in der Oranienburger Straße ihren Anfang nimmt.

Die Berliner Sonnenwärme reichte nicht, um die Wolken ganz aufzulösen, und so hingen sie über uns, erst in Gelb und Grau gefärbt, etwas später in Orange und Lila übergehend. Drei Hubschrauber brummten am Himmel und hinterließen dort oben rosa Kreise. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, es seien Motorboote auf einem Fluss. Es war ein Augenblick lang wie ein Luxusurlaub am Ufer des Lebens. Und weil die Probleme der letzten Wochen nicht an einem Nachmittag zu lösen waren, wiederholte ich diese Kur am nächsten Tag, nahm einige Stunden ein Sonnenbad im Sessel unter dem schrägen Fenster meiner Dachwohnung. Draußen war es ein Grad unter null, auf meiner Haut waren es über 30. Ich bekam einen roten Kopf und sorgte mich nun über dunkel gewordene Falten um die Augen.

Ich bin eine Ipsonin-Püsanin. Ipsonin, weil ich in Ipsonien geboren bin, und außerdem, weil ich auf seinem Territorium genau das gesetzliche Minimum an Kalendertagen, die magischen 10.000, gelebt habe. Und ich bin Püsanin, weil ich die Wahrheit meines Volkes verstanden habe. Dies erlaubt mir, meine Erkenntnisse auch in die Gespräche anderer Völker einzufädeln. Ich durfte irgendwann außerhalb Ipsoniens leben, ohne den Status seiner Bürger, also das Wiederkehrrecht, zu verlieren. Diese andauernde Zugehörigkeit empfinde ich als vorteilhaft. Als lästig jedoch, dass ich sie, meine Landsleute, überall identifiziere und dann sofort über sie nachdenken muss: Im Menschengedränge der Flughäfen, auf den Rolltreppen der Kaufhäuser, in Bussen und Zügen – sie sind überall. Sie laufen mir ständig über den Weg, ich wache von ihren Stimmen auf, und sogar auf den Verpackungen der Lebensmittel sind die Buchstaben unseres Alphabets aufgedruckt.

Gestern fuhr ich mit dem Rad, schwer mit Einkäufen beladen und nicht mehr ganz munter. Ein Gemälde, Öl auf Karton, 60 mal 40, eingewickelt in eine Zeitung, die hier auf Ipsonisch herausgegeben wird, baumelte an meinem Lenkrad. Ich war zu warm angezogen und trug eine Strickmütze auf dem Kopf, weil es am Morgen noch gestürmt und geschneit hatte, nun aber die Sonne schien. Um die viel befahrene Friedrichstraße zu überqueren, stieg ich vom Rad. Da sah ich vor mir eine Pärchen, das bereits auf der Straße, inmitten des Verkehrs, stand. Die Frau war zweifellos eine Ipsonin, der Mann – ich weiß nicht woher. Sie war eine sehr hübsche Frau, Mitte dreißig, mit langen, erntefeldfarbenen Haaren, die zu einer kunstvollen Frisur gesteckt waren, eine freche Locke fiel ihr auf den purpurnen Kragen ihres goldfarbenen Pelzmantels, der bis zu den Knöcheln reichte und in sanften Wellen ihre feinen Stöckelschuhe umspülte. Die Schminke hatte die Frau allerdings zu dick aufgetragen für das milchige Licht dieser blassen Jahreszeit. Sie ähnelte einer Schaufensterpuppe aus dem Modehaus gegenüber. Es war dennoch interessant und angenehm, sie anzusehen. Der Herr an ihrer Seite war gut zwanzig Jahre älter, ein „Respectman“ in handgenähten Schuhen und einem Angoramantel in der Farbe irischer Butter – Sahnegelb mit einem Tropfen Karottenextrakt. Seine Begleiterin erzählte ihm gerade sehr lebhaft etwas, ihre Stimme konnte ich nicht hören, aber sie war bestimmt süß, er nickte dazu. War sie seine Geliebte, seine Frau oder seine Braut, seine Nichte, seine Geschäftspartnerin?

Ich hätte so gerne mehr und alles über sie gewusst: Wo und wie sie wohnte, was sie aß, wen sie kannte … Aber was ging mich das alles an? Ich erwähnte ja bereits, dass ich ein fast zwanghaftes Interesse an allen Ipsoniten habe, auf die ich stoße. Aber fast nie ist dieses Interesse gegenseitig, so auch jetzt. Die Frau war offensichtlich keine Püsanin, sonst würden sich unsere Blicke treffen, sie würde sofort meine Nähe spüren und mich identifizieren wollen. Schade um mich.

Ipsonien ist ein sonderbares Land! Mit Träumern und Idealisten, die die ganze Welt beglücken wollen. Aber auch einfache nette Spinner werden dort zuhauf geboren – und besiedeln später die anderen, vernünftigen Länder und beeinflussen deren Traditionen. In der neue Heimat mögen sie sich vielleicht ein wenig ändern und anpassen, eines behalten die meisten von ihnen jedoch für immer: mit dem Land Ipsonien verbunden und mit ihren Menschen seelisch verwandt zu sein. Einige, deren Gefühle tief sind und deren Herz tapfer ist, die einiges erlebt, gesehen und verstanden haben, wachen eines Morgens als Püsaner auf. Ihre einfühlsamen Fähigkeiten bleiben jedoch keine Konstante, sie können geschwächt werden. Der häufigste Grund dafür sind zu viele schlecht verdaute Eindrücke, was eine fast logische Folge ihres Auffassungsvermögens ist. Dann fühlen sich die Neupüsaner schlecht und verfallen in eine Depression: Sie wollen nichts mehr sehen und hören und nichts mehr verstehen, sie unterziehen sich einer Art Fasten – einer Beschränkung der Informationsfluten.

Ipsonien ist eine Monarchie. Auf dem Thron sitzt ein Imperator, jetzt ist Ipsat der XXVIII. an der Macht. Drei Söhne muss er haben, wenn er keine leiblichen Kinder hat, dann adoptiert er welche. Inkognito, versteht sich. Keiner denkt weiter darüber nach. Die Söhne sind also geboren, aufgewachsen und haben eine gute Bildung genossen. Sie sind jedoch ganz unterschiedlich: hart, milde oder sanft in ihrem Charakter. Dann kommt der Tag: Das Volk hat das Recht, sich einen neuen Herrscher zu wählen, und es bestimmt nun, mit welcher Hand das Land regiert wird. Es beginnt eine neue Epoche, und sie dauert jedes Mal 25 Jahre – bis neue drei Söhne geboren, aufgewachsen und ausgebildet sind. So lebt ein Bürger des Landes unter drei oder vier Herrschern. Zwei gleiche Eigenschaften dürfen nicht hintereinander gewählt werden. Das Volk, sollte die Regierung nicht ihren Erwartungen entsprechen, kann den Herrscher absetzen und einen seiner Brüder berufen, die Epoche würde aber in einem solchen Fall fortgesetzt, bis das angefangene Vierteljahrhundert abgelaufen ist. Manchmal sind die Zeiten turbulent, dann hat man auch schon mal drei Herrscher in 25 Jahren erlebt. In solchen Zeiten sind auch die Bürger Ipsoniens zappelig und übergeschnappt, rau im Umgang miteinander und etwas blöde. Das verleiht ihnen eine Aura heiliger Idiotie. Hierzulande sind sie in diesem Zustand glücklicherweise seltene Gäste. Neulich hatte ich aber solch eine seltene Begegnung, die mir tagelange Zweifel an mir selbst bescherte.

Ich hatte eine Verabredung zu einem Interview. Ich betrete also das Haus und komme in einen Ausstellungsraum. Ich sehe den Mann schon von weitem, er ist kleiner als ich, hat einen hellen Kopf wie eine reife Pusteblume, seine Augen sind auch hell, etwas milchig gelb. Eindeutig ist das der Maler. Ich möchte mich erst umsehen, bevor wir miteinander reden – und werfe einen Blick auf seine Bilder: Am liebsten möchte ich sofort wieder verschwinden.

Soll das etwa Ipsonien sein? Ich bin entsetzt, gehe trotzdem weiter von einem langweiligen Stillleben zum anderen und unzähligen, leblosen Landschaften, eindeutig alten Postkarten nachgemalt. Kein einziges Bild fesselt meine Aufmerksamkeit, kein einziges erwärmt mein Herz. Alle Schinken sind flach, schwach und blass. Einige Bilder sind immerhin handwerklich gut gearbeitet. Bei anderen stechen jedoch die Fehler sofort ins Auge, wie eine ipsonische Flagge an einem Segelboot – die so groß ist, dass sie das Schiff fast zum Umkippen bringt, das auf den Meereswellen steht wie auf blauen Betonstufen. Oder ein liegender Akt: Er sieht zwar aus wie eine Frau, ist aber keine. Das Schamdreieck ist viel zu schwarz und zu grob und das Erste und Einzige, was man auf dem Bild sieht. Das Gesicht der Frau ist uninteressant, der Rest ihres Körpers überflüssig.

Der Maler eilt mir zur Begrüßung entgegen, streckt beide Hände nach mir aus, dabei redet er so schnell auf mich ein, dass er einige Wörter verschluckt. Er packt mich am Arm und schleift mich durch die Halle, er prahlt und spreizt sich. „Das sind die Artikel über mich, hier sind noch welche und da – der Katalog! Lesen Sie, schauen Sie, nehmen Sie die Postkarten! Ich bin anerkannt, bekannt, ich habe Auszeichnungen! Ich wurde, mir wurde …“ Ich kann nicht mehr zuhören und bremse seine Rede in voller Geschwindigkeit ab. Mein „laang-saam!“ ertönt wie das Pfeifen eines entgegenkommenden Zuges. Dabei schüttele ich mehrmals den Kopf, ich sage sogar, dass mir die Bilder überhaupt nicht gut gefallen, besonders die Dörfer im Winter nicht, diese tristen, dunklen, armen Orte. An solch ein Ipsonien will ich nicht glauben. Der Künstler hört mir gar nicht zu, er sagt, er hat es so gesehen.

Ich weiß nicht, was ich über ihn und seine Bilder schreiben soll. Objektives und Subjektives sind in meinem Urteil verknäult: Ist wirklich alles schlecht, was da hängt? Das stimmt nicht ganz. Aber ist es dann gut? Das würde ich auch nicht sagen wollen. Grau, düster, mittelmäßig eher! Da haben wir es. Wie schreibt man über das Mittelmaß? Am besten gar nicht. Nun, das wird mir nicht vergönnt sein. Ich fahre heim, komme in die Wohnung, laufe mir die Füße um den Schreibtisch wund, verfluche meinen Schreibauftrag, bete aus dem Fenster in die Dunkelheit, und dann stelle ich mit feuchten Händen doch die Worte zu einem Text zusammen, der niemanden verletzt. Aber die nicht in Worte gefasste Wahrheit über die heilige Idiotie eines Mittelmäßigen spukt weiter durch die Wohnung. Einige Tage später bekommt der Mann von mir fünf Exemplare der frisch gedruckten Zeitung, die Artikel kann er selbst nicht lesen, ich übersetze sie ihm aus dem Ipsonischen, er freut sich, ist dankbar und möchte sich erkenntlich zeigen, sucht ein Bildchen aus (pfui, ist es hässlich!), signiert es sehr persönlich für mich und wickelt es in Zeitungspapier. Ich nehme es mit, hänge es an mein Fahrrad, schwitze wie gesagt auf dem Weg nach Hause unter dieser dämlichen, drückenden Mütze, die wattierte Jacke ist mir auch zu eng, sogar die Hose und die Schuhe und, nicht genug, auch noch der BH. Das Blumenbild baumelt am Lenkrad und schlägt böse gegen meinen Meniskus und noch einmal und immer wieder. Ich verschenke das Bild drei Tage später an ein befreundetes Pärchen. Sie sind mir hoffentlich nicht böse deswegen.

EKATERINA BELIAEVA, 1964 in Moskau geboren, lebt seit 1990 in Berlin. 2003 verlieh die Akademie für Metaphysik, Rollo Kosmos, an die Aspirantin Ekaterina, Herrscherin des Inneren Russland, den I. akademischen Grad eines Doktors der Seelenforschung