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Archiv-Artikel

Bundesrepublik auf der Anklagebank

Im Jugoslawien-Krieg bombardierte die Nato 1999 eine Brücke in Varvarin. Bilanz: Zehn Tote, dreißig Verletzte. Überlebende und Angehörige der Opfer haben Deutschland deswegen verklagt. Heute wird vor dem Oberlandesgericht in Köln verhandelt

VON PASCAL BEUCKER

Es ist ein wunderschöner Frühlingstag. Die Mittagssonne an jenem Sonntag im Mai scheint warm. Auf den Straßen und Gassen Varvarins herrscht reges Treiben. Es ist Markttag in dem kleinen südserbischen Städtchen. Bauern und fliegende Händler bieten ihre Waren feil. In der kleinen Kirche des Ortes wird die Messe zum orthodoxen Dreifaltigkeitsfest zelebriert. Die Angler, die ihre Leinen in die Morava geworfen haben, ärgern sich, dass die Fische heute nicht so recht beißen wollen. Alles wirkt friedlich hier.

Aber die Kleinstadt mit ihren 4.000 Einwohnern ist ja auch rund 200 Kilometer vom Kosovo und 180 Kilometer von Belgrad entfernt. Der seit 68 Tagen andauernde Bombenkrieg der Nato gegen Jugoslawien hat bisher woanders stattgefunden. In den Ort führen weder Eisenbahn noch Fernstraßen, er ist nur über Nebenstraßen erreichbar. Militärische Einrichtungen befinden sich hier nicht, die nächste Kaserne ist 22 Kilometer entfernt. Verteidigenswerte Anlagen gibt es nicht, auch nicht in der Region. Die jugoslawische Staatsgewalt besteht aus drei Polizisten. Varvarin gilt als sicheres Gebiet. Bis zu jenem 30. Mai 1999.

Es ist gegen 13 Uhr, als Sanja Milenkovic mit ihren Freundinnen Marijana Stojanovic und Marina Jovanovic gut gelaunt die kleine Brücke überqueren will, die Varvarin von dem Nachbarort Donji Katun trennt. Die schmale Eisenbrücke mit ihren gerade mal sechs Metern in der Breite hat schon einige Jahre auf dem Buckel. Sie wurde 1924 in Deutschland gefertigt, dort nach dem Zweiten Weltkrieg demontiert und als Reparationsleistung in Jugoslawien wiedererrichtet. Nun schlendern die drei Mädchen über die Brücke.

Plötzlich geschieht das Unfassbare: F-16-Kampfjets der NATO nehmen die verrostete Brücke ins Visier. Zwei Raketen schlagen ein und durchtrennen die eiserne Fachwerkkonstruktion wie ein blitzartig schneidender Schweißbrenner. Die entzweiten Brückenteile stürzen in den Fluss. „Plötzlich gab es ein Zischen, eine unsichtbare Gewalt schleuderte uns durch die Luft, ich hörte die Schreie meiner Freundinnen“, wird später Marina Jovanovic berichten. Die Druckwelle ist so stark, dass eine Vielzahl von Gebäuden noch im Umkreis von über einem Kilometer beschädigt werden.

Nach den Einschlägen bricht Panik auf dem nur wenige hundert Meter von der Brücke entfernten Markt aus. Hunderte von Menschen laufen zum Ufer hinunter, wollen den Verletzten helfen. Da kommen die Kampfflugzeuge zurück. Sechs Minuten nach dem ersten Angriff schlagen erneut zwei lasergesteuerte 2000-Pfund-Bomben in den halb im Wasser versunkenen Brückenteil auf der Seite von Varvarin ein. Rauch legt sich wie ein dichter Nebel über das Werk der Zerstörung. Für Sekunden herrscht Totenstille. Sanjas Kopf hängt im Wasser.

Noch am selben Tag stirbt die Fünfzehnjährige im Krankenhaus von Krusevac. Ihre Freundinnen überleben schwer verletzt: Marinja mit 20 Bombensplittern im Körper; Marina mit 52, von denen viele operativ nicht zu entfernen sind – das Risiko ist zu groß. Insgesamt verlieren zehn Menschen ihr Leben, dreißig werden verletzt. Von den siebzehn Schwerverletzten bleiben einige irreparabel verkrüppelt. Es habe sich bei der Brücke von Varvarin um ein „legitimes militärisches Ziel“ gehandelt, verkündet der Nato-Sprecher Jamie Shea am Tag danach.

Die Nato hat bis heute nicht erklärt, was ausgerechnet diese altersschwache Brücke dazu qualifiziert haben soll. Aus welchem Land die Piloten stammten, hat sie ebenfalls nie verraten. Wie es zu diesem Angriff kommen konnte, ist immer noch nicht geklärt. Kein Vertreter eines Nato-Staats hat sich jemals in Varvarin gemeldet.

Für Zoran Milenkovic, den Vater der getöteten Sanja, ist es immer noch unbegreiflich, „warum unsere Tochter es verdient haben soll, auf diese Weise umzukommen“. Er gehörte damals zur Opposition gegen den serbischen Staatschef Milosevic und ist heute Bürgermeister von Varvarin. Gemeinsam mit 34 weiteren Bürgern der Kleinstadt – Angehörigen der Getöteten und Überlebenden – hat er die Bundesrepublik Deutschland als einen der seinerzeit gegen Jugoslawien Krieg führenden Staaten auf Schadenersatz verklagt. Mit seiner Klage will Milenkovic bestätigt bekommen, „dass es großes Unrecht war, dass mein Kind getötet wurde“.

Es ist das erste Mal, dass gegen die heutige Bundesrepublik wegen eines Krieges, an dem sie selbst beteiligt war, Klage erhoben worden ist. Am heutigen Donnerstag wird vor dem 7. Senat des Oberlandesgerichts in Köln über die Klagen verhandelt. Doch die Chancen stehen schlecht. In der ersten Instanz haben sie bereits verloren. Im Dezember 2003 wies das Landgericht in Bonn die Klagen ab. Zwar sprach Richter Heinz Sonnenberger den Hinterbliebenen sein „volles Mitgefühl“ aus und gestand auch ein: „Es handelt sich hier um einen Rechtsstreit, bei dem man spontan helfen will.“ Aber: Weder deutsches Recht noch internationale Verträge böten Kriegsopfern einen Ansatz, individuelle Entschädigungsansprüche an gegnerische Länder zu stellen. Das könnten nach herrschender Juristenmeinung nur Staaten untereinander. Einzig die europäische Menschenrechtskonvention von 1950 räume Individualrechte ein. Doch ihr war Jugoslawien zur Zeit des Kriegs noch nicht beigetreten. „Wir haben alles geprüft, wir haben es uns nicht leicht gemacht“, betonte Sonnenberger.

Doch die Menschen von Varvarin wollen sich damit nicht abfinden. „Man kann nicht jemanden umbringen und dann ist keiner verantwortlich“, so Vesna Milenkovic, die Mutter Sanjas. Ihre Anwälte hoffen nun, dass das Kölner Oberlandesgericht in der Berufungsverhandlung „das Völkerrecht in einer moderneren Weise interpretieren wird“. Sie gehen jedenfalls weiterhin von einer gesamtschuldnerischen Mithaftung des Nato-Tatbeteiligten Deutschland aus. Zur Unterstützung der Opfer von Varvarin ruft das Kölner Friedensforum für heute um 11 Uhr zu einer Protestaktion vor dem Gericht am Reichensperger Platz auf.