Nur eine Minderheit

Die meisten an „Zucker“ erkrankten Patienten kommen mit Humaninsulin gut aus. Doch es gibt auch Diabetiker, die auf Insulin vom Rind oder Schwein angewiesen sind. Jetzt stellen immer mehr Pharmafirmen die Produktion von tierischem Insulin ein

Die Produktion von tierischem Insulin rentiert sich schon lange nicht mehr

VON GISELA SONNENBURG

Wie alt auch immer wir uns die Menschheit vorstellen – die Zuckerkrankheit ist älter. Selbst Tiere in freier Wildbahn erkranken an Diabetes mellitus, der „honigsüßen Harnruhr“; sie als Zivilisationskrankheit zu bezeichnen ist ein Trugschluss, der auf selektiver Wahrnehmung basiert. Derzeit sterben zudem mehr Patienten an den Folgen des Diabetes als an Aids: Der „Zucker“ ist alles andere als ein gelöster Fall.

Besonders schwer hat es eine kleine Minderheit unter den Diabetikern: Sie reagiert auf Humaninsulin mit schweren allergischen Reaktionen, bis zum anaphylaktischen Schock, der von Erbrechen bis zu Atemlähmung und Herzstillstand reicht. Ein lebensbedrohlicher Zustand. Und: Die solchermaßen Autoimmunerkrankten reagieren nicht nur auf das körpereigene Insulin so, sondern auch auf das als Arzneimittel verabreichte humanidentische Insulin, das heutzutage mithilfe der Gentechnik hergestellt wird.

Dieses wird seit den 80er-Jahren in der Regel statt tierischer Insuline, etwa vom Rind oder Schwein, eingesetzt. Die meisten Diabetiker kommen damit auch gut zurecht; aber die in Deutschland auf etwa 400 geschätzten Humaninsulin-Allergiker sind, sofern wegen ihrer Gefährdung keine Desensibilisierung möglich ist, weiterhin auf tierische Produkte angewiesen.

Weil die Gewinnmargen bei Gentech-Humaninsulin jedoch immens sind, stellt eine Pharmaunternehmen nach dem anderen die Herstellung von Tierinsulin ein. Jetzt auch die ostdeutsche Berlin-Chemie AG, die bisher das Gros der hiesigen Versorgung übernahm. Wochenlang drückte sich die Firma im Gespräch mit der taz um eine klare Stellungnahme, jetzt erst teilt sie mit: „Wir stellen den Vertrieb von Tierinsulin für menschliche Patienten zum 15. März ein.“ Zuvor hatte Roger Limberg, Forschungsleiter bei der Berlin-Chemie, lapidar festgestellt: „Wirtschaftlich rentierte sich die Produktion von tierischem Insulin für uns schon lange nicht mehr.“

Man habe aber, so Limberg, vor dem endgültigen Entscheid die großen Krankenkassen kontaktiert: In jenen Einzelfällen, in denen das Leben nachweislich gefährdet sei, würden sie importiertes Tierinsulin bezahlen wollen. Eine Garantie gibt es aber nicht. Zumal der Nachweis der Allergie oft schwierig ist: Sie äußert sich zunächst in Allerweltsbeschwerden wie Wassereinlagerungen, Gelenkschmerzen oder Niedergeschlagenheit.

Spätestens ein Schwanken des Blutzuckerspiegels sollte skeptisch machen. Und wer ohne Warnzeichen starke Unterzuckerungen erleidet, dem könnte ein Versuch mit Tierinsulin helfen. Bisher war das kein Problem, konnten die Patienten das Tierinsulin doch auf Rezept beziehen. Jetzt aber müssen sie zuerst mit der Kasse verhandeln.

Zudem besteht bei Importinsulin eine Lieferzeit von etwa 14 Tagen. Wer sein Insulin täglich braucht, kann aber nicht warten. Ihm ist auch mit dem zeitverzögert wirkenden Tierinsulin der Firma Novo Nordisk, das in Deutschland zugelassen ist, nicht geholfen. Und wer gar ins Koma fällt, muss damit rechnen, dass Tierinsulin in deutschen Kliniken nicht mehr vorrätig ist.

Die Patientin Sabine H. hat Ähnliches bereits erlebt. Die heute 50-Jährige war schon als Kind zuckerkrank. Sie war gut „eingestellt“, doch nach der Umstellung auf Humaninsulin bekam sie Probleme. Erst als sie wie zuvor Tierinsulin spritzte, konnte sie wieder normal leben.

Aber als Sabine H. wegen einer Lebensmittelvergiftung ins Krankenhaus kam, berücksichtigten die Ärzte ihre seltene Allergie trotz der Hinweise von Angehörigen nicht – sie gaben ihr wieder Humaninsulin. Für Sabine H. pures Gift: Sie erlitt, wie es im ärztlichen Bericht heißt, ein „zerebrales Trauma“ nebst Atemstillstand und Nierenversagen. Ihr Körper war nah daran, aufzugeben, darüber hinaus leidet ihre Seele: Sabine H. lebt seither in einer Hölle aus Ängsten. Laut dem sie behandelnden Diabetologen Ernst von Kriegstein aus Bad Bevensen ist die Problematik der Humaninsulin-Allergie sowieso „viel zu wenig bekannt, auch und gerade in Fachkreisen“.

Was ihn frappiert: „Schon bei den Zulassungsstudien für Humaninsulin in den Vereinigten Staaten gab es Patienten, die die Medikation abbrechen mussten.“ Das steht in der Tat nicht in Beipackzetteln.

Auch ein Skandal um gefälschte britische Studien hatte kaum Folgen: Nach wie vor gilt gentechnisch hergestelltes Humaninsulin vielen Ärzten und auch den Diabetikerverbänden als alternativlose Optimallösung – als hätte es die beiden in Deutschland registrierten Todesfälle nie gegeben.

Eine hartnäckige Lobby der Pharmaindustrie und einer unkritischen Ärzteschaft schafft sich hier die Regeln. Kein Wunder, wenn man weiß, dass die globale Versorgung auf weitere Gentechpräparate abzielt, für die das Humaninsulin das erste und damit Vorzeigebeispiel ist. Hilfreich wäre daher die Anerkennung von Tierinsulinen als „Orphan Drugs“ durch die EU. Die Europaabgeordnete der Grünen, Hiltrud Breyer, setzt sich für diesen medikamentösen Minderheitenschutz ein. Eine Entscheidung des Brüsseler Parlaments steht jedoch noch aus.