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Archiv-Artikel

Das Paradies liegt in der Natur

Immer mehr Menschen wandern und pilgern und konfrontieren die christlichen Kirchen mit neuen Entwicklungen. Ein Bericht über die Pilger-Tagungen der katholischen Thomas Morus Akademie (Bensberg) und der Evangelischen Akademie Loccum

VON CHRISTEL BURGHOFF

Jetzt ist es ernst geworden: Im Zuge sanften Reisens gehen immer mehr Menschen zu Fuß. Weitab vom touristischen Mainstream wandern sie auf überlieferten Wegen. Sie klopfen an die Pforten von Kirchen und Klöstern, sie durchwandern den Alltag ländlicher Gebiete. Und sie empfinden all das als bereichernd. Der Boom des historischen Pilgerweges nach Santiago de Compostela, der 800 Kilometer durch Nordspanien führt, trifft einen Nerv. Dass jetzt selbst alte Jakobswege in Deutschland wieder neu entdeckt werden und immer mehr Wanderer damit liebäugeln, von zu Hause aus bis ans „alte“ Ende der Welt, nach Santiago, zu gehen, war nicht abzusehen. Es klingt nicht nur nach Wanderfreude, sondern auch nach neuer Gläubigkeit. Wanderer und Pilger: Wie ähnlich sind die sich? Sind Wanderer potenziell religiös?

Die Bedeutung von Fitness, Naturerlebnis und Sinnsuche im „Trendsport Wandern“ war unlängst Thema der katholischen Thomas Morus Akademie. Und wieder interessierten die Santiago-Pilger. Sie bewegen sich nach Ansicht kirchlicher Experten in einer Grauzone, die sehr in Richtung Spiritualität zu interpretieren ist – als unspezifische, vielleicht sogar unbewusste Sinnsuche, wenn nicht gar Gottsuche. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass in diese Annahmen auch kirchliches Wunschdenken über die Religiosität von Wanderern einfließt. Rainer Brämer, Natursoziologe und Wanderspezialist, der auf der Tagung über seine Untersuchungen berichtete, fand auf dem spanischen Camino nicht besonders viele echte Pilger. Nostalgie, Bedürfnisse nach Einfachheit oder kulturelle Interessen sind mindestens so verbreitet wie religiöse. Den Wanderboom insgesamt verortet Brämer vor allem im Bewegungsmotiv und der Stressentlastung. Wandern in der Natur sei wie Therapie, erklärte der Forscher, denn „die Natur ist unser arteigenes Biotop“. Wir hätten ein inneres Verhältnis zum Paradies – die Bibel hätte dies nur abgeschrieben. Zur Natursehnsucht wartete Brämer noch mit einer weiteren These auf. Er hat herausgefunden, dass sich die Deutschen praktisch über alles uneins sind – außer über ihre Liebe zur Natur. „Natur ist der einzig unbestrittene Wert, den wir zurzeit haben.“ Sinnsuche? „Die Sinnpotenzen liegen in der Landschaft.“

Doch auch aus den Gemeinden wird von einem wachsendem Pilgerbedürfnis berichtet. Nicht nur aus den katholischen – irritierenderweise auch aus evangelischen Gemeinden. Gerade Protestanten, die mit Wundern und Reliquien nichts anfangen können, die keine „heiligen“ Orte kennen, die nichts von Bußgängen und Ablasswesen halten, wollen wandern, einschließlich Gottesdienst und Gebet.

Diesen Trend belegte nun eindrucksvoll der große Zulauf zu einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum. Das Thema war „Pilgerschritte. Neue Spiritualität auf uralten Wegen“ und führte hier zu einer Selbstverständnisdiskussion im Umgang mit der Wanderfreude. Spurensuche in Luthers Lehre und was man heute davon hält und wie man das Pilgern verstehen und praktizieren kann – hier wurden neben allen Informationen auch gemischte Gefühle offen gelegt. Und gleichzeitig wurde ein pragmatischer Zugang aufgezeigt, denn viele evangelische Gemeinden haben Pilgerwanderungen längst aufgegriffen. Natürlich reibt sich das Pilgerbedürfnis am lutherischen Anspruch, sich für das Alltägliche zu begeistern. Aber die Zeiten haben sich geändert, meinte dazu der Theologe Peter Zimmerling von der Universität Heidelberg: Auch Tourismus gehöre heute zum Alltag. So manche Widersprüche von einst haben sich schlicht aufgelöst.

Seit bald 20 Jahren sickert Pilgern in die evangelischen Kirchen in Deutschland ein. Der Anstoß kam aus der ehemaligen DDR und im Zusammenhang mit den politischen Entwicklungen im Osten, so berichtete Paul Martin Clotz, evangelischer Referent für geistliches Leben. Evangelische und katholische Geistliche in Mecklenburg luden ab 1990 dann gemeinsam zu ökumenischen Pilgerwegen ein. Aus Norwegen berichtete Pastorin Berit Lanke von einem anderen Anstoß, nämlich dem Umweltministerium, das eine überlieferte Pilgerroute von Oslo nach Trondheim für Wanderer zu markieren begann.

Ob als Ansatz zur Versöhnung der Konfessionen, ob als neuer Impuls für die Gemeinden oder als Gemeinschaftserlebnis – die evangelischen Kirchen haben viele gute Gründe, sich des Pilgerns anzunehmen. Ausgehend vom evangelischen Kloster Loccum führt bereits ein markierter Pilgerweg auf rund 300 Kilometern entlang der Weser, der Leine und der Unstrut bis ins thüringische Volkenroda.

Es ist nicht der einzige Pilgerweg: Es gibt seit zwei Jahren beispielsweise auch den ökumenischen Pilgerweg von Görlitz an der Neiße über die historische Via Regia bis nach Vacha an der Werra. Oder den Elisabethpfad von Frankfurt am Main nach Marburg an der Lahn. Als besondere Themenwege bereichern die Pilgerwege auch die Landkarte der profanen Wanderfreunde. Zwar spricht hier niemand vom sanften Tourismus – er wird einfach praktiziert, mit den Füßen. Die Kirchen können hier durchaus ihren Beitrag leisten.