: Der Kritiker als Komödiant
Komischer Abend im Kanzleramt – Marcel Reich-Ranicki und Durs Grünbein plaudern über Literatur. Im Gespräch ging es um Europa als Text: Europa ist gut, Literatur ist gut, wird da alles doppelt gut?
VON MICHAEL RUTSCHKY
Die junge Kollegin schrieb genau mit: wie der Kanzler es sich auf den harten Stufen der Sky-Lobby bequem machte; wann er an seinen Manschetten zupfte oder laut lachte; wie er sich später, beim Essen und Trinken, zwanglos von Gruppen umstehen ließ. Klar, bei einer Kulturveranstaltung im Kanzleramt – Sky-Lobby heißt ein amphitheatralischer Saal im siebten Stockwerk –, bei einer Kulturveranstaltung im Kanzleramt gilt viel Aufmerksamkeit dem Kanzler selber, auch wenn er unauffällig im Publikum sitzt. Anfangs machte sich die junge Kollegin sogar Sorgen, ob der Kanzler Zeit genug finde für eine Eröffnungsrede: ohne den Kanzler verliert die Veranstaltung sofort an Wert.
Es ging um „Europa als Text“, um die Bedeutung der schönen Literatur für Europa – in Wahrheit ging es um Marcel Reich-Ranicki. Gegen ihn und seine „Wortergreifungsautomatik“ (so Peter Rühmkorf) konnte die Moderatorin Christina Weiss den zweiten Gesprächspartner, den Dichter Durs Grünbein, nur mühsam ins Spiel bringen. Reich-Ranicki, vom Alter im Gehen und Treppensteigen und ein wenig durch Schwerhörigkeit behindert, lieferte eine glanzvolle Show, die unter dem Titel stand: der Kritiker als Komödiant. Mit größter Zielsicherheit traf er seine Pointen und erntete die begeisterten Lacher des Publikums (darunter die Lacher des Kanzlers, wie sie die junge Kollegin notierte). Sein Gedächtnis beschaffte ihm ohne Hemmung alle notwendigen Einzelheiten: Verachtet mir, habe ein kluger Kollege geschrieben (es ging um Erich Kästner), die Kleinmeister nicht – ach, so Reich-Ranicki kokett, habe er das nicht sogar selber geschrieben? Gelächter.
Europa und die Literatur – gibt es überhaupt eine andere als die europäische? – baute er schon mit dem ersten Statement ein klares Schema auf, wie die Komödie es braucht. Die Nordamerikaner schreiben ebenso wie die Inder englische, die Südamerikaner schreiben spanische und portugiesische Literatur. Alles, was an der Weltliteratur interessiere, sei europäisch geprägt, ein froh und bestimmt vorgetragener Eurozentrismus, der das Publikum, vage, aber entschieden auf die Anerkennung der anderen, der fremden Kultur getrimmt, zum Lachen kitzelte, als wäre eine Zote erzählt worden. Da konnte Durs Grünbein, tief durchdrungen von der Literaturfrömmigkeit der sozialistischen DDR, mit seinem eher feierlichen Begriff von Weltliteratur (die sich als Hochgebirge von Homer bis Joyce erstrecke) keinen Stich machen.
Die Unterhaltung der beiden Herren beschränkte sich dann auf das Namedropping – wir haben noch gar kein Wort über Shakespeare fallen lassen; sowie auf das Ranking, wie man es von Hitlisten kennt – Hölderlin ist gewiss der größte deutsche Lyriker, aber was den Roman angeht, so sind die Russen die besten. Und der „Ulysses“ von James Joyce? Da habe der Kollege Tucholsky, so Reich-Ranicki lustig, seinerzeit das Bonmot geprägt: Wie Liebigs Fleischextrakt – man kann ihn nicht essen, aber tausende werden daraus ihre Suppe kochen. Gelächter.
Es fehlte eine präzise Fragestellung, die man hätte diskutieren können. Die dachten einfach, witzelte später ein älterer Kollege bei Bier und Buletten – es gab auch Wein und Wasser und feine Salate –, die dachten einfach: Europa ist gut, und Literatur ist gut, und wenn man beides zusammentut, wird’s doppelt gut.
Diese arglose Frömmigkeit prägt ja gegenwärtig die meisten Diskussionen über Kultur. Literatur, Musik, Malerei fördern Frieden und Völkerverständigung und den Aufbau einer zivilen Identität. Dass die Nationalliteraturen stark beigetragen haben zum Nationalismus der europäischen Länder, der wiederum Europa erst einmal kaputt gemacht hat, scheint unbekannt.
Ebenso die schreckliche Belehrung durch das Dritte Reich: The humanities don’t humanize, die Humaniora humanisieren nicht. Man konnte tagsüber als KZ-Kommandant seinen Dienst tun und sich abends von Hölderlin und Beethoven erheben lassen.