: Und die Moral von der Geschicht’?
In der Visa-Affäre verweisen politische Gegner derzeit mit hämischer Schadenfreude auf die hohen ethischen Ansprüche der Grünen. Deutschlands einzige Partei mit serienmäßig eingebautem guten Gewissen muss erst noch lernen, was Joschka Fischer längst schon weiß: Wenn es um Macht geht, ist mit Moral kein Staat mehr zu machen
VON RALPH BOLLMANN
Die Schadenfreude über die Grünen ist groß. Kaum ein längerer Zeitungsbeitrag zur Fischer-Affäre kommt ohne den Hinweis aus, jetzt endlich habe sich die Moralistenpartei selbst entzaubert. Die politische Gruppierung, die in allen Untersuchungsausschüssen der Republik stets die schärfsten Attacken gegen die Verfehlungen des Establishments vortrug, sitzt nun selbst auf der Anklagebank. Mehr noch: Ein Politiker, dessen Partei stets Zivilcourage propagierte, stiehlt sich auf denkbar schäbigste Weise aus der Verantwortung. Ich bin’s nicht, meine Mitarbeiter sind es gewesen – so rückgratlos wie der Bundesminister des Auswärtigen dürfte sich nicht mal der Filialleiter im Kaiser’s um die Ecke hinter seinen Untergebenen verstecken, ohne vollends das Gesicht zu verlieren.
Man sollte meinen, dass sich die Grünen im gewohnheitsmäßigen Missbrauch des moralischen Zeigefingers nun mäßigen würden. Sie tun aber das Gegenteil. Mit dem Reflex des Süchtigen erhöhen sie sogar die Dosis, nachdem die Wirklichkeit so unerwartet in die grüne Welt des Wahren und Guten eingedrungen ist. Noch die behutsamste Kritik am selbstgerechten Auftreten des Außenministers wird sogleich mit dem hochmoralischen Vorwurf beantwortet, die Weltoffenheit des Landes gelte es zu verteidigen. Wer von Joschka Fischer verlangt, er solle sich endlich zur Sache äußern, wird deshalb schon in die Nähe des Rassismus gerückt. Niemand beherrscht diese Methode so gut wie Claudia Roth, die als Chefin der Moralistenpartei deshalb so unentbehrlich ist.
Dabei müssten zumindest die grünen Regierungsmitglieder inzwischen gelernt haben, dass Moral im demokratischen Alltag ein schlechter Ratgeber ist. Das bedeutet keineswegs, dass es sich beim politischen Geschäft um ein prinzipienloses Gewerbe handelt. Ethische Grundsätze sollte ein guter Politiker durchaus haben. Doch geht es dabei um Leitplanken, die Grenzen des Handels definieren, allenfalls noch um Zielvorgaben, die Sinn und Richtung politischer Tätigkeit definieren. Wer aber jede Entscheidung des politischen Alltags moralisch auflädt, indem er Rentenkürzungen zu einem Gebot der „Nachhaltigkeit“ erklärt oder die Beteiligung an beliebigen Militäreinsätzen damit begründet, ein „neues Auschwitz“ verhindern zu wollen – der missbraucht nicht nur die eigenen hehren Grundsätze, der beraubt sich auch seiner Kompromissfähigkeit und verkennt den Charakter parlamentarischer Politik.
Man muss nicht so weit gehen wie Helmut Schmidt, der Visionären einst den Gang zum Augenarzt empfahl. Aber dass es im parlamentarischen Geschäft zuallererst um den Ausgleich von Interessen geht, sollte sich nach über 50 Jahren Bundesrepublik herumgesprochen haben. Der schlechte Ruf, den der Parlamentarismus in Deutschland einst hatte, war ja keineswegs auf die Mängel des Systems zurückzuführen. Vielmehr war es die Illusion eines über den Parteien stehenden Gemeinwohls, die das Aushandeln von Kompromissen im parlamentarischen Alltag als verachtenswert erscheinen ließ – und so zum Untergang der Weimarer Republik entscheidend beitrug.
So gesehen, sind die Grünen gewiss die deutscheste aller Parteien. Bei aller Lernfähigkeit im politischen Prozess glauben sie doch von Herzen noch immer, die einzig Guten zu sein – die einzige Partei, die, unberührt von den Niederungen der Einzelinteressen, das wohl verstandene Interesse des Ganzen vertritt.
Als Generationenpartei, die mit einer ganzen Kohorte Gleichgesinnter in die Institutionen der Bundesrepublik hineinwuchs, konnte sie sich in diesem Glauben stets bestätigt sehen: An den meisten Schulen propagierten die Lehrer grüne Ideale, engagierte Pfarrer setzten grüne Werte mit dem Christentum gleich, und grünennahe Journalisten behandelten die Partei in den Medien meist wohlwollend. Falls es einmal nicht so war, lag die Schuld selbstredend bei den Redakteuren und nicht bei den Grünen selbst.
Freilich waren die Leute, die sich gegenseitig ihrer moralische Überlegenheit versicherten, ganz überwiegend Angehörige des urbanen akademischen Milieus. Altmodisch formuliert, sind die Grünen eine Klassenpartei des Bildungsbürgertums. Viele Konflikte der rot-grünen Koalition rühren daher, dass die Klientel der Volkspartei SPD für den moralischen Überschwang grüner Politik weit weniger empfänglich ist.
Dass die Grünen die politische Brisanz der Visa-Affäre so maßlos unterschätzt haben, hat hierin seine Ursache: Wer nicht zu den Modernisierungsgewinnern zählt, dem ist es nicht zu verdenken, dass ihm das Fressen näher ist als die Moral. Vom Essen zu reden, das gilt – um bei Brecht zu bleiben – eben als niedrig bei denen, „die schon gegessen haben“. Lehrer, Journalisten oder Rechtsanwälte sind vorerst nicht durch Arbeitskräfte aus der Ukraine zu ersetzen. Bauarbeiter oder Schlachtergehilfen dagegen schon.
Das bedeutet keineswegs, dass der Volmer-Erlass und das Streben nach mehr Reisefreiheit falsch gewesen wären, und noch weniger kann es eine Berichterstattung rechtfertigen, die jeden ukrainischen Touristen zu einem Sicherheitsrisiko erklärt. Aber es bedeutet, dass die Grünen den real existierenden Konflikt zwischen der neuen Freiheit einer globalisierten Welt und dem persönlichen Bedürfnis nach Sicherheit nicht einfach unter Verweis auf ihre höhere Moral in Luft auflösen können. Es handelt sich um eine Frage der Abwägung, die nicht im Himmelreich politischer Theorie, sondern nur in den irdischen Niederungen des Interessenkonflikts gelöst werden kann: Wovon profitiert Deutschland langfristig mehr? Von einer Abschottung seines nationalen Arbeitsmarkts? Oder von der vorbehaltlosen Öffnung gegenüber den östlichen Nachbarn? Und welche Rolle spielt dabei der berechtigte Anspruch der Bürger, die Politik möge diesen Wandlungsprozess unter Kontrolle behalten – oder zumindest den beruhigenden Eindruck vermitteln, dass sie es kann?
Selbst der Zynismus, mit dem Joschka Fischer solche Fragen zu behandeln scheint, ist eine Folge des überzogenen grünen Moralismus. Wer sich jahrzehntelang in den Versammlungen der Selbstgerechten tummeln musste, kann am Ende nicht mehr anders, als sich gegen deren Argumente vollständig abzuschirmen. Deshalb gibt es wohl in kaum einem politischen Lager so viele vermeintlich abgeklärte Zyniker wie bei den Grünen. Als doppelter Außenseiter – zuerst als Grüner in einem zunächst feindlich gesonnenen Politikbetrieb, dann als bestgehasste Figur innerhalb der eigenen Partei – hat Fischer am Ende gelernt, an nichts zu glauben als an sich selbst.
Darin erinnert Fischer von ferne an den großen Außenseiter der römischen Republik, Gajus Julius Cäsar. Auch Cäsar war überzeugt, ohne ihn gehe nichts – und in gewisser Weise stimmte das sogar, weil das System seiner informellen Machtausübung nur auf ihn zugeschneidert war. Und schon der Zynismus des Diktators lässt sich im Nachhinein als Reaktion auf den überzogenen Moralismus seiner republikanischen Gegner interpretieren, auf die kompromisslose Prinzipientreue seines großen Gegenspielers, des jüngeren Cato.
Wie dem bedrängten Joschka Fischer plötzlich die Worte fehlen, so zog sich auch schon der sterbende Cäsar seine Toga übers Gesicht. Keiner sollte ihn in seiner Ohnmacht sehen.