: „Die EU befindet sich bereits in der Krise“, sagt Raoul Marc Jennar
Wegen seiner neoliberalen Ideologie wird der Europäische Verfassungsvertrag zu Recht von vielen Bürgern abgelehnt
taz: Immer mehr Franzosen wollen beim Referendum gegen den Europäischen Verfassungsvertrag stimmen. Sind sie alle antieuropäisch?
Raoul Marc Jennar: Die Nationalisten wie Le Pen und Philippe de Villiers sind bei den Europaparlamentswahlen im letzten Jahr unter zehn Prozent geblieben. Heute haben wir es zunehmend mit Anhängern der europäischen Idee zu tun: Sie wollen ein geeintes Europa, mit transparenten und demokratisch kontrollierten Institutionen. Aber sie sind gegen die neoliberale Entwicklung der EU.
Was kritisieren Sie an dem Verfassungsvertrag ?
Das ist ein politisches Programm für den neoliberalen Minimalstaat. Es beschränkt die essenziellen Funktionen der Staaten auf die innere und äußere Sicherheit. Alle anderen Bereiche – von der Sozial- über die Umwelt-, Steuer- bis zur Landwirtschaftspolitik – sollen sich den Gesetzen des Marktes unterordnen.
War das nicht von Anfang an EU-Logik?
In den ersten 20 Jahren ihrer Geschichte war die EU auf den Ausgleich der Lebensbedingungen der Europäer bedacht. Die Kommission war weniger ideologisch als heute.
Seit wann ist das anders?
Seit dem Beitritt von Großbritannien in den Thatcher-Jahren und der Präsidenz von Jacques Delors. Beides machte die Kommission zum Motor des Neoliberalismus.
Was wird aus den Sozialversicherungen, wenn der Verfassungsvertrag in Kraft tritt?
Die bleiben Sache der Staaten. Aber zugleich gibt der Vertrag der Kommission die Befugnis, in den Staatshaushalten zu intervenieren. Insbesondere, wenn „manifeste Irrtümer“ vorliegen. Die Freiheit der Staaten, mit Sozialversicherungen eine gewisse solidarische Umverteilung vorzunehmen, ist damit gering.
Was sind „manifeste Irrtümer“?
Das definiert der Vertrag nicht. Aber die EU-Kommission unterstützt den Weltwährungsfonds (IWF) bei Umstrukturierungen in Entwicklungsländern. Und der IWF betrachtet dort die Budgets für Gesundheit, Soziales und Bildung als „manifeste Irrtümer“.
Warum sind die Sozialdemokraten Schröder, Hollande und Zapatero dafür?
Die Sozialdemokratie steht an einem Wendepunkt. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat ein Teil von ihr sich mit der Vorherrschaft der Märkte arrangiert und beschränkt sich darauf, nur die untolerierbarsten Effekte abzufedern.
Ist der Verfassungsvertrag mit einer nationalen Verfassung vergleichbar?
Eine Verfassung in einem demokratischen Land ist ein kurzer, einfacher und verständlicher Text. Dieser Text hat 448 Artikel und ist selbst für Fachleute schwer verständlich. Die Zielvorgabe vom EU-Gipfel im Dezember 2001 lautete: die Texte und die Institutionen vereinfachen. Das ist total gescheitert.
Welchen Sinn macht es, ein Referendum über einen Text zu organisieren, den ein großer Teil der Wähler nicht versteht?
Es ist eine grundlegende Entscheidung über die Zukunft. Die darf man nicht Parlamentariern überlassen, die selbst zugeben, dass sie den Text nicht gelesen haben. Man muss das Referendum zur Pädagogik und Erklärung nutzen.
In manchen Ländern – darunter Deutschland – erlaubt die Verfassung kein Referendum.
Es wäre möglich gewesen, Konsultationen zu organisieren. Die Regierungen haben entschieden, das nicht zu tun. Das ist eine Konfiszierung grundlegender demokratischer Entscheidungen. Eine Knebelung der Demokratie.
Viele fürchten, dass die EU in eine Krise schlittert, wenn die Franzosen tatsächlich mit „non“ stimmen …
Die EU befindet sich bereits seit dem 13. Juni 2004 in der Krise. Bei der Wahl zum Europaparlament sind 60 Prozent der Wähler – rund 200 Millionen von 350 Millionen – nicht wählen gegangen. Die Bürger haben das Gefühl, den Gang der Dinge nicht beeinflussen zu können. Diese schwere Krise wird die Ablehnung des Vertrages nur bestätigen.
Es sprechen viele Politiker davon, dass die EU auseinander brechen könnte.
Erpressung mit Angst ist eine politische Technik der Rechten. Hier wird sie von Sozialdemokraten betrieben.
Was passiert denn nach einem „Non“ mit der EU?
Die existierenden Verträge bleiben in Kraft. Und die EU-Kommission, das Europaparlament, der Ministerrat und der Europäische Gerichtshof – werden weiterfunktionieren. Damit ist die Stabilität und die Kontinuität der europäischen Instanzen gewährleistet. Kein Grund für Katastrophenstimmung.
Kann der Verfassungsvertrag ohne ein EU-Gründerland funktionieren?
Ganz sicher nicht. Das gilt nicht nur für Frankreich, sondern auch für die Niederlande, wo es auch ein Referendum geben wird. Im Falle eines „Nein“ in einem Gründerland muss man feststellen, dass die europäische Verfassung nicht mehr existiert.
Und danach? Eine neue Verfassung schreiben?
Eine Verfassung muss große Mehrheiten hinter sich versammeln. Im Fall dieses Vertrags – ganz egal welche Ergebnissen die einzelnen Referenda haben – wird es jedoch große Gruppen geben, die dagegen gestimmt haben. Vorerst sollte man daher einen Text über jene Dinge machen, wo es Konsens gibt. Ich hänge sehr an der EU. Aber man muss immer die Frage stellen: Europa – um was zu machen?
INTERVIEW: DOROTHEA HAHN