: Bauchfreiheit
KÖRPERUMFANG Wir sind dicker geworden, sagt eine neue Studie. Textilhersteller sorgen sich – und mogeln ein wenig beim Schneidern
VON BARBARA DRIBBUSCH
Vier Zentimeter. Na also. Jeder, der mit Besorgnis seinen Schwimmring in der Körpermitte betrachtet, kann sich beruhigt zurücklehnen. Es geht vielen so. Die Taillen in der Bevölkerung sind dicker geworden. Allein bei Frauen haben sie in den vergangenen 15 Jahren um 4,1 Zentimeter zugelegt – dies ergab die Reihenmessung des Textilforschungszentrums Hohenstein Institute in Bönnigheim unter dem Titel „Size Germany“. Und dieses Ergebnis bestätigt einen Trend, der sich schon länger beim Verkauf von Blusen, Kleidern und Hosen zeigt.
„Die Anteile der größeren Größen haben zugenommen“, sagt Studienleiter Martin Rupp. Nicht dass die Frauen größer geworden sind, nur ein Zentimeter sind sie seit der letzten Reihenmessung im Schnitt gewachsen. Die Proportionen haben sich verändert: Die Frauen legten vor allem an der Taille zu, weniger an Brust und Hüften. „Die Figuren werden gerader“, erläutert Rupp.
Aber auch die Männer haben sich verändert: Ihr Taillenumfang wuchs im Vergleich zur letzten Messung im Jahre 1980 um 4,4 Zentimeter. Die männliche Brust sogar um 7,3 Zentimeter. Ob dafür Fett oder Muskeln verantwortlich sind, ist ungeklärt. Während sich bei den Frauen die Silhouette ein wenig „vermännlicht“, ist bei den Männern eher eine „Verweiblichung“ festzustellen.
100 Unternehmen, mehrheitlich aus der Textilbranche, beteiligten sich finanziell an der Reihenmessung, bei der 13.000 Männer, Frauen und Kinder mit Hilfe eine Scanner-Technologie berührungslos abgetastet wurden. Doch wer diese Unternehmen nun fragt, ob die neuen Maße in neue, passgenaue Kollektionen umgesetzt werden, wird schnell zu spüren bekommen, dass die Sache mit den Größen kompliziert und ein bisschen geheim ist in der Textilindustrie.
Denn Konfektionsgröße ist nicht gleich Konfektionsgröße, auch heute schon nicht. „Wir stellen fest, dass Teile in derselben Größe sehr unterschiedlich ausfallen können“, sagt Ute Detering, Professorin für Textil- und Bekleidungstechnik an der Hochschule Niederrhein. Eine Größe 40 kann anderswo eine 38, aber auch eine 42 sein – je nach Zielgruppe.
„Firmen, die als Zielgruppe ältere Kundinnen haben, schneiden eher großzügiger“, erklärt Detering. Manche Frau hat sogar schon mal erlebt, dass sie plötzlich wieder in eine Größe 38 passte, obwohl sie sonst eher mit Klamotten in der Größe 40 die Läden verlässt. „Vanity Sizing“, „Schummelgrößen“, nennen Branchenkenner das. Bei naiven Kundinnen mag sich dann sogar der Eindruck einstellen, man habe abgespeckt. Da nimmt man die Jeans erst recht gerne mit.
Doch es gibt auch die andere Seite. Frauen in mittleren Jahren, die sich in eine Filiale der Teenie-Moden-Kette Zara wagen, wanken bisweilen suizidgefährdet wieder hinaus, weil sie in den Blusen und Jacken ihrer Größen aussehen wie gepresste Weißwürste. „Die Hersteller der Jugendmarken schneiden enger, als es der Größe auf dem Etikett entspricht“, erläutert Detering. Kein Wunder, denn knappe Blusen gehören zum jugendlichen Image.
Die Durchschnittsgröße der Frauen liege bei 42, sagt Detering. Sie glaubt, dass die durchschnittlich breitere Taille zum einen darauf zurückzuführen sei, dass es heute mehr ältere Frauen gebe. Zum anderen seien aber auch die Teenager schwergewichtiger als früher.
Alle werden also etwas fülliger. Doch die Presseabteilungen der Modelabels reden nicht gerne darüber. Wörter wie „dicker“ oder gar „älter“ sind in den Modehäusern tabuisiert wie geheime Atomwaffentests. Eine Größenanpassung „nach oben“ werde „keiner an die große Glocke hängen“, erklärt Textilprofessorin Detering. Außerdem möchten manche Hersteller von Jugendmode gar nicht, dass ihre Teile von „älteren oder gar fülligeren Menschen getragen werden, weil sie Angst haben um ihr Image“, sagt eine Branchenexpertin, die lieber nicht namentlich zitiert werden will.
Auf die Frage, ob aufgrund der Reihenmessung nun mehr Kleidungsstücke mit stärkerer Taille produziert werden, gibt es vom Label Esprit „keine Angabe“. Man werde die Ergebnisse der Reihenmessung „zielgruppenbezogen und selektiv verwenden“, heißt es vage.
Produktdirektorin Anita Beckmann vom Modehaus S. Oliver ist da konkreter. Man habe die Größen in den vergangenen Jahren immer schon „angepasst“ auf Basis der Erfahrungen am „Point of Sale“, sagt sie. Aufgrund der Reihenmessungen von „Size Germany“ werde man, wenn überhaupt, „nur noch minimale Veränderungen an den Schnitten vornehmen, vielleicht noch mal ein bis zwei Zentimeter an der Taille hinzufügen“. Die Produkt-Direktorin spricht offen über das Interesse ihrer Kundinnen: „Wir haben mehr Verkäufe in den Größen 40 und 42 als in kleineren Größen wie einer 36.“
Vor allem die boomenden Onlineshops der Modelabels brauchen realistische Passformen, wofür die neue Reihenmessung viele Daten liefert. Bei den Versendern werde jedes zweite Teil von den Kunden wieder zurückgeschickt, sagt Textilexpertin Detering. Oft passt die Größe nicht. Auch der Otto-Versand ist an „Size Germany“ beteiligt und will die neu ermittelten Körpermaße jetzt auch „in passgenaue Schnitte“ übertragen.
Wie auch immer: Die Reihenmessung sorgt auf jeden Fall für mehr Bauchfreiheit – ob in einer zu großen 38 oder zu kleinen 42, ist dann eigentlich auch egal.