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Archiv-Artikel

Der Exilant vom Burgtheater

1945 jenseits der Hauptkriegsschauplätze (Teil I)

AUS BUENOS AIRESINGO MALCHER

Am Kai von Genua wartete im Winter 1948 außer Jacques Arndt noch ein Passagier: ein schlanker, hoch gewachsener Mann, der etwas abseits stand, weder Englisch noch Italienisch sprach und äußerst zurückhaltend war. Ein Nazi, war Arndts erster Gedanke, als sie die Treppe zu dem Frachter hochstiegen, der kurz darauf Richtung Buenos Aires ablegte. Jacques Arndt hatte für flüchtige Nazis inzwischen einen Blick, als Reporter für die argentinische Zeitschrift Noticias Gráficas war er für mehrere Monate im zerstörten Europa unterwegs gewesen. Es war seine erste Europareise seit der Flucht aus Wien 1938.

Die Überfahrt dauerte vier Wochen. In den ersten Tagen trieb der verschwiegene Passagier an Deck Sport, mied aber jeden Kontakt zu den Mitreisenden. Nach ein paar Tagen sprach Arndt ihn direkt an: „Sie sind Deutscher?“ Der Fremde zuckte zusammen. Er heiße Ernst Rüdiger von Todt, behauptete der Mann, sichtlich eingeweicht vom Atlantik, auf dem sie seit Tagen schipperten, kein Land in Sicht, nur Wasser und Wellen, jeden Tag. Irgendwann erzählte er Arndt seine Geschichte: Als Kampfflieger habe er im Zweiten Weltkrieg für Hitlers Wehrmacht London bombardiert. Jahre später, in einem französischen Gefangenenlager, hätten ihm argentinische Besucher einen Zettel zugeschoben: Wenn es ihm gelinge, sich bis München durchzuschlagen, würden sie ihn sicher nach Argentinien bringen. Der mysteriöse Deutsche hatte sogar einen argentinischen Pass, in dem sein Name stand. Arndt glaubte ihm kein Wort, heute weiß er, einen Ernst Rüdiger von Todt hat es nie gegeben.

Als ihr Frachter Wochen später in Buenos Aires andockte, warteten drei olivgrüne Wagen der Streitkräfte am Kai. Ihre Fahrer empfingen den Deutschen höflich und luden ihn ein. Seither sah Arndt ihn nie wieder. Er wusste nur, dass der Deutsche einen Zettel mit einer Adresse bei sich hatte: „Paseo Colón 220“. Das Kriegsministerium. „Da ist wieder ein Kriegsverbrecher angekommen“, sagte ein Freund zu Jacques Arndt.

Fast 60 Jahre später sitzt Jacques Arndt im Wohnzimmer seines Hauses in Buenos Aires. Es ist kalt in dem Raum und Arndt trägt eine Lederjacke. Mit dem markanten Kopf und dem breiten Gesicht sieht der 91-Jährige ein bisschen aus wie Billy Wilder. Als Schauspieler und Regisseur hat Arndt 39 Filme gedreht. Er arbeitete beim Fernsehen, am Theater, beim Radio. Noch immer schreibt er jede Woche 30 Manuskriptseiten für seine Rundfunksendung bei Radio Cultura auf FM 97,9, die er seit elf Jahren zweimal die Woche moderiert. Die Rückkehr nach Europa kam ihm nie in den Sinn. „Was sollte ich mit Deutschland?“, sagt er. „Dort war alles kaputt, und das Einzige, was ich wollte, war Theater machen.“ In Buenos Aires bot sich ihm diese Möglichkeit.

Als Kind in Wien war er zweimal die Woche mit seiner Mutter ins Burgtheater gegangen. „Das Theater war für mich das Schönste auf der Welt.“ Er sagt den Satz schwärmerisch in seinem weichen Wiener Singsang. Schon mit 15 wollte er Schauspieler werden. Die Mutter finanzierte ihm den Unterricht, er lernte an der Schule des Burgtheaters und wurde in dessen Ensemble berufen. Er sah „eine rosafarbene Welt“ vor sich, „es war die Welt, in der ich leben wollte“.

Braunhemden in der Burg

Am 11. März 1938 zerbricht diese Welt, Hitlers Truppen marschieren in Wien ein. Arndt weiß nicht genau, was das bedeuten soll. Er interessiert sich nicht für Politik. Dann aber, bei einer Nachmittagsvorstellung für Schüler Mitte Mai, ist der ganze Saal voller Jugendlicher in braunen Hemden. Das Burgtheater spielt Schillers Wallenstein und Arndt spricht auf der Bühne den Vers: „Freiheit ist bei der Macht allein / ich leb und sterb mit dem Wallenstein.“ Der Saal tobt plötzlich, die Braunhemden springen mit ihren Stiefeln auf die Samtsessel, rufen „Heil Hitler“ – Macht haben sie mit Deutschland und Wallenstein mit Hitler übersetzt. „Das habe ich nicht gewollt“, flüstert Arndt erschüttert, jedoch laut genug, dass es einer seiner Kollegen hört. Tage später fällt eine Horde SA-Männer mit Knüppeln in seiner Garderobe ein. Sie prügeln ihn die Treppe hinunter und werfen ihn aus dem Theater. Er kehrt nie zurück.

Zwei Monate später klingeln zwei Männer an seiner Tür. Sie unterbreiten ihm einen Fluchtplan. Arndt möchte seine Mutter mitnehmen, sie sagen ihm, er solle sie später nachholen. Er wird sie nie wieder sehen. Kurz darauf verlässt er Wien, mit nur 9,50 Reichsmark in der Tasche, mehr darf er nicht bei sich tragen. Arndt passiert die einzig offene Grenze nach Deutschland, fährt mit Nahverkehrszügen bis Trier. Sie sagen ihm, an welchen Bahnhöfen er etwas zu essen bekommt und wo er sich waschen kann. „Wenn was passiert“, schärfen sie ihm ein, „hast du uns nie gesehen.“ In Trier schwimmt er durch die Mosel nach Luxemburg. Dort meldet er sich bei einer Kontaktadresse. Ende November 1938 bringen ihn seine Fluchthelfer um acht Uhr morgens zum Zug nach Marseille. Er wendet ein, keinen Pass zu haben. „Ne pas des questions, s’il vous plaît“, kriegt er zurück. Im Zug kommen Schaffner und Zöllner. Sie kontrollieren alle im Abteil – nur Arndt nicht. In Marseille wartet ein Mann auf dem Bahnsteig, der ihn zum Hafen bringt. Auf der Seitenwand des Frachters „Campana“ öffnet sich die Tür, ein Brett wird herübergeschoben, er ist gerettet.

23 lange Tage sitzt er mit Flüchtlingen aus Polen im Rumpf des Frachters, dann wird er zum ersten Mal an Deck geholt. Es weht ein warmer Wind, zu sehen ist ein Hafen. „Der Hafen von Santos“, sagt ein Matrose. „Wo ist Santos?“ – „Brasilien. In zwei Tagen gehst du in Montevideo an Land, das ist in Uruguay, ein gutes Land.“

Bis heute weiß Arndt nicht, wer die beiden Männer waren, die ihn in Wien besucht hatten, wer die Männer in dem Büro in Luxemburg waren. War es die jüdische Organisation JOINT? Die franzöische Résistance? Er hat versucht es herauszufinden, er wollte das Geld zurückzahlen, damit noch mehr Menschen gerettet werden können. Doch er erfuhr es nie. Gerettet, aber gestrandet am anderen Ende der Welt stand Arndt am Hafen von Montevideo. Die ersten Tage blieb er dort, verdiente sich Trinkgelder mit dem Schleppen von Säcken.

Anderthalb Jahre verbrachte er in Montevideo. Dann las er im Argentinischen Tageblatt, dass ein deutsches Theater in Buenos Aires Schauspieler suche. Kurz darauf wurde er auf der anderen Seite des Río de la Plata in das Ensemble der von Paul Walter Jacob 1940 gegründeten Freien Deutschen Bühne aufgenommen. Jeden Freitagabend spielte die Freie Deutsche Bühne an der Avenida Santa Fe deutsche Klassiker. Schiller, Goethe, Heine, aber auch Werfel und Brecht. „Die Aufführungen waren nicht so künstlerisch, wie man das am Burgtheater gelernt hatte“, sagt Arndt, „die Stücke funktionierten über den Text.“ 215 Premieren wurden gegeben, insgesamt 750 Aufführungen. Wie ein Stadttheater finanzierte sich die Freie Deutsche Bühne mit Abonnements. Doch das Publikum der Exilanten blieb überschaubar, und so musste jede Woche ein neues Stück präsentiert werden.

Nach dem Ende der Naziherrschaft in Deutschland blieb er in Argentinien, bis auf einige Reisen wie die 1947 als Reporter ins zerstörte Europa. In Buenos Aires konnte er seine Schauspielkarriere weiter verfolgen, obwohl 1965 der Spielbetrieb der Freien Deutschen Bühne eingestellt wurde. Für Arndt war das zu dieser Zeit kein Problem mehr. Er war schon ein bekannter Schauspieler in Argentinien, drehte Filme in den USA, war zu Gastspielen in Europa. Auch nach Wien reiste er. 1999 zum ersten Mal auf offizielle Einladung der Regierung. „Ich war Staatsgast“, sagt er mit ironischem Unterton. Doch in den acht Tagen des Besuchs hat Arndt kein einziges Mal gelächelt. Beim Empfang mit dem damaligen Bundeskanzler Victor Klima fragte ihn der Regierungschef: „Was ist Ihr erstes Empfinden, wieder in Wien zu sein?“ – „Mein erster Gedanke ist, warum Sie fast 60 Jahre gebraucht haben, mir diese Frage zu stellen.“

Von der Erinnerung getrieben, wollte Arndt in Wien in das Zuhause seiner Kindheit zurück, eine große Fünfzimmerwohnung im Dritten Bezirk, nicht weit weg vom Burgtheater. Der neue Besitzer war sichtlich nervös. Der Kaufvertrag lag auf dem Tisch, er hatte die Wohnung von einer Tänzerin übernommen. Obwohl viele Jahre vergangen waren, kamen die Räume ihm noch vor wie früher. Der Briefkasten, die Türklinken, das Parkett, alles wirkte unverändert. „Mein Bruder ist auch im Krieg gefallen“, sagte der neue Bewohner. Arndt schaute ihn lange an, ehe er sagte: „Meine Mutter wurde von den Österreichern ermordet, weil sie Jüdin war, sie hat kein Gewehr auf der Schulter getragen.“

Halluzinationen auf hoher See

Er hat nicht herausfinden können, wer die Wohnung geraubt hatte, nachdem sie seiner Familie weggenommen wurde. Eine von den vielen Fragen, die offen geblieben sind. Wie auch die Frage, wer der rätselhafte Deutsche nun war, den er 1948 nach seiner Europareise auf dem Schiff nach Argentinien traf. Um das zu recherchieren, hat sich Arndt sogar ins Kriegsministerium gewagt. Im zweiten Stock stand er im Zimmer eines argentinischen Generals, der ihm sagte. „Wissen Sie, auf hoher See hat man oft Halluzinationen, Sie haben geträumt, verstanden?“ Der General wurde energisch, näherte sich bis auf zehn Zentimeter seinem Gesicht: „Haben Sie verstanden? Sie haben geträumt!“

Kurz zuvor hatte Arndt ein Telegramm des Roten Kreuzes erhalten. Er hatte um Auskunft gebeten, was aus seiner Mutter in Wien geworden sei. Die Antwort war nur zwei Zeilen lang: „Ihre Mutter wurde ein Opfer des Faschismus. Es lebe die Freiheit!“