: Neureich besiegt Tradition
In einem Spiel der ganz besonderen Klasse besiegt der FC Chelsea den FC Barcelona 4:2 und erreicht damit das Viertelfinale der Champions League. Londons Keeper Petr Cech hat daran größten Anteil
AUS LONDON RAPHAEL HONIGSTEIN
Pierluigi Collina wollte nicht Franz-Xaver Wack sein. Die halbe Barcelona-Mannschaft hatte den Glatzkopf aus Bologna in der 76. Minute umzingelt, um ihn mit flehenden Gesten zum Blick nach oben zu bewegen. Auf den Videoleinwänden an der Stamford Bridge flackerte gerade John Terrys Kopfball zum 4:2, doch der Unparteiische fixierte regelkonform einen Grashalm im Mittelkreis. Lieber gar nicht erst in Versuchung kommen; man hat ja bei Leverkusen gegen Stuttgart vor zehn Tagen gesehen, wozu so etwas führen kann.
„Ich dachte immer, er wäre der beste Schiedsrichter der Welt“, schrie Samuel Eto’o im Fernsehen vor Wut ins Mikro, „aber ich habe mich getäuscht.“ Collina hatte vor dem Tor von Chelseas Kapitän ein Foul von Ricardo Carvalho an Torhüter Victor Valdes übersehen. Mit dem entscheidenden Tor, der Schlüsselszene einer bereits lange vor ihrem Ende als Klassiker erkennbaren Partie, hielt sich nach dem Einzug der Londoner ins Viertelfinale aber außer dem traurigen Eto’o niemand mehr lange auf. Es wäre ja kleinmütig gewesen, ein derart grandioses Ereignis auf einen einzigen umstrittenen Moment zu reduzieren.
Chelsea gegen Barcelona, Englands beste Mannschaft gegen die aus Spanien, streng kalkulierter Konzeptfußball gegen organisierte Kreativkunst, Neu-Reichtum gegen Tradition, Mourinho gegen Rijkaard. Das schien als eine dieser übergroßen Sportmetaphern zu taugen, mit denen sich das Leben, ach was, die ganze Welt erklären lässt. Mourinhos Blaue gewannen faktisch den Kampf, ihre Ideologie aber hatte sich am Dienstag genauso wenig durchgesetzt wie die der Gegner, weil dieses in seiner Qualität kaum zu begreifende Match seine ganz eigene Vorstellung davon hatte, wie es aussehen wollte. Es war ein Abend, an dem das Spiel mit den Mannschaften spielte, nicht umgekehrt. Die Stärken und Schwächen der Teams drehten sich schneller als das Ventil des fliegenden Balles in ihr Gegenteil; und wieder zurück. Chelsea, die beste Abwehr Europas, machte in der Defensive Fehler wie eine Parkmannschaft am Sonntagmorgen und zeigte zeitgleich vorne Kombination von ungeahnter Schönheit; Barcelona agierte nicht weniger schizophren. Heraus kam das komplette, perfekte Spektakel.
Verblüffend war, wie Barcelona nach drei schnellen Gegentoren innerhalb von 20 Minuten einfach weiter jede Menge guter Ideen entwickelte, als sei gar nichts passiert. Der in Auszügen geniale Ronaldinho traf per Elfmeter, schnippte dann einen Ball mit dem Außenrist aus dem Stand unverschämt ins Tor. 3:2, Barca lag in der Addition wieder vorne. In der zweiten Hälfte machten die Katalanen das Spiel, doch gefühlte 18 Pfostentreffer auf beiden Seiten und mehr Torchancen als ihn drei „Sportschau“-Ausgaben passen sprachen von der völligen Offenheit des Duells.
Zufall kann aber einen Namen haben. Wer ihn suchte, traf auf Petr Cech im Tor der Londoner. Der Tscheche hielt weitaus besser als Valdes; eine solche überragende Torwartleistung ist auch in der Königsklasse nur alle Jubeljahre zu bewundern. Nach dem Schlusspfiff tanzte José Mourinho mit seinen Spielern auf dem Platz, das Spiel hatte viele Beteiligte allerdings noch immer ganz in seinem Bann. Ein Mitglied des Chelsea-Trainerstabs warf Rijkaards Assistenten einen (gekauten) Kaugummi an den Hinterkopf, Stadionaufseher schubsten Rijkaard und Ronaldinho im Tunnel; Eto’o berichtete, er sei von einem Wächter als „Affe“ beschimpft worden.
Wenigstens Rijkaard behielt die Fassung und sprach offen von seiner Trauer. Kollege Mourinho blieb im Sieg großzügig und wünschte Barcelona den Gewinn der spanischen Meisterschaft. Wie hatte es der Champions-League-Gewinner mit dem FC Porto vor kurzem noch so schön und gewohnt bescheiden gesagt? „Um den Wettbewerb zu gewinnen – und da spreche ich gegen mich selbst –, braucht man Glück.“ Das Glück, zum Beispiel, dass sich so ein Spiel einen als Sieger aussucht.