: Mehr Freiräume schaffen
Schriften zu Zeitschriften: „Scheidewege“, die Jahresschrift für skeptisches Denken, fordert, die Wissenschaften müssten anerkennen, was sie nicht wissen könnten
Bevor das Frühjahr kommt, wird einem in den Wochenmagazinen mal wieder die Liebe erklärt: Oxytocin und Vasopressin machen Treue. Testosteron den Sex. Dopamin, Serotonin und Noradrenalin machen Liebe. Man möchte aufatmen. Ganz unsentimental soll Mutter Evolution unsere Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen darauf gedrillt haben, den unerfahrbaren Gen-Pool weiterzugeben.
Doch es gibt kritische Stimmen, die das subjektive Erleben gegen seine rationale Umdeutung durch die Biowissenschaften verteidigen wollen. So in der 34. Ausgabe der Scheidewege, einer von der Max-Himmelheber-Stiftung herausgegebenen „Jahresschrift für skeptisches Denken“. Seit ihren Anfängen seien die Naturwissenschaften „mit einem Umsturz vertrauter, sinnlich-lebensweltlicher Erfahrungen verbunden“, beklagt hier der Heidelberger Psychiater Thomas Fuchs. Die Spontaneität des Lebens solle der Berechnung unterworfen und so die latente Angst vor Anfälligkeit, Verletzlichkeit und Gefährdung der Existenz gebannt werden. Aber in der Selbstermächtigung des Menschen gegenüber seiner leiblichen Natur liege ein Widerspruch. Das Subjekt dieser Ermächtigung erkläre sich zur bloßen Natur und verneine seine Autonomie: „Der Gewinn an kausalem Eingriffswissen ist erkauft mit einer schleichenden Entfremdung.“ Immer hätten naturwissenschaftliche Theorien Anweisungen zur Herstellung der Phänomene geliefert, die sie erklären sollten. Doch: „Wäre der Leib nur eine Maschine, die wir bedienen, und Leben nur ein Programm, dann würde die Verfügbarkeit seiner Naturbasis tatsächlich einen Zuwachs an Autonomie und Freiheit des Subjekts bedeuten. Aber Leiblichkeit ist kein Gegenüber, sondern der Grund, aus dem heraus wir leben.“
Der skeptische Leser habe damit ein neues Problem. „Was immer wir auch bewusst planen oder tun – es geschieht aus einem verborgenen leiblichen Grund heraus, den wir nie ganz vor uns selbst zu bringen vermögen“, behauptet Fuchs. Riecht man in seiner These vom verborgenen Grund nicht den gleichen autoritären Anspruch, den Fuchs doch exklusiv den Biowissenschaften ankreiden wollte? Dass sich das Wünschenswerte am Faktischen zu orientieren habe?
Bodenständiger geht es in dem Beitrag des Philosophen Michael Hauskeller zu, der sich über die deutsche Bestattungskultur Gedanken macht. Hauskeller plädiert dafür, den unterschiedlichen Formen des Totengedenkens in einer Gesellschaft mit verschiedenen Kulturen und Traditionen größeren Freiraum zu geben. Beim Bestatten komme es nicht auf eine bestimmte Handlung, sondern auf die mit ihr verbundene Bedeutung an.
Ist ein Toter noch ein Mensch oder bloß formlose Materie, die auch kostengünstig wie Tierkadaver entsorgt werden könnte? Für Hauskeller eine rhetorische Frage: „Ich glaube nicht, dass wir aufhören können, die Toten zu ehren, ohne damit zugleich die Wertschätzung des lebendigen Menschen preiszugeben.“ Denke man an Lynchmorde in Krisengebieten oder Gunther von Hagens’ „Körperwelten“, sei man unangenehm davon berührt, dass Leichen dem Voyeurismus oder der Verstümmelung ausgesetzt würden.
Hauskellers Fazit ist für die Scheidewege programmatisch: „Wenn wir uns nur an das halten würden, was rational zu rechtfertigen ist, dann bliebe von unserer ethischen Kultur herzlich wenig übrig“. Ein autonomer Moralanspruch, der sich vergleichender Kontroverse entzieht. Für eine offene Gesellschaft hieße das: noch mehr Freiräume schaffen. JAN-HENDRIK WULF
Scheidewege 34 (2004/05), 23,50 €