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Archiv-Artikel

Offensive gegen das Misstrauen

Verfolgte des NS-Regimes behalten ihre Erlebnisse oftmals zeitlebens für sich. Jetzt gibt es für sie in Köln ein Erzählcafé. Der Gesprächskreis soll alte Menschen ermutigen, ihr Schweigen zu brechen

VON CLAUDIA LEHNEN

Auf dem über sechzig Jahre alten Foto mischt sich noch kindlicher Stolz in die Vorsicht. Heute überwiegt in ihrem Blick die Scheu. Sofie B. war zehn Jahre alt, als sie von den Nazis aus ihrem polnischen Heimatort ins Lager verschleppt wurde.

Schnell steckt die 72-Jährige, die in Köln lebt, die Arbeitskarte mit dem Foto wieder in ihre Tasche. Die zwei Jahre bis zum Kriegsende haben sie geprägt, die Normalität im Alltag konnte sie nie mehr zurück erobern. Heute ist die Frau mit dem halblangen blonden Haar in das Restaurant des Kölner Altenheims Residenz am Dom gekommen, um mit Menschen, die ähnliche Schrecken erlebt haben, über ihre Erinnerungen zu sprechen. Auf Initiative des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte eröffnet an diesem Tag das erste Erzähl- und Begegnungscafé, zu dem alle Verfolgten der Nazizeit eingeladen sind. 150 sind gekommen, im Großraum Köln leben nach Schätzungen des Verbandes 1.000 bis 2.000 Überlebende.

Die Rückmeldung, die Sonja Schlegel vom Bundesverband vorab bekam, war eine negative. „Auf unserem Symposium hat man mir prognostiziert, dass das schief gehen würde“, sagt die Pressesprecherin. Zu heterogen sei die Masse der Verfolgten; Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, Priester, Sinti und Roma, Homosexuelle, „Euthanasie“-Überlebende, Zwangssterilisierte, Zeugen Jehovas, aus Osteuropa verschleppte Zwangsarbeiter und viele andere Verfolgte an einem Tisch hätten sich nicht viel zu sagen. Trotzdem hatte sie die Idee, einen gemeinsamen Gesprächskreis für alle überlebenden Verfolgten einzurichten. „Alle vereint das Schicksal der Verfolgung in dieser Zeit. Diese Menschen haben so viel Ausgrenzung erfahren, da wollten wir nicht schon wieder einen Teil ausgrenzen“, sagt Schlegel.

Zweck des Begegnungscafés ist es laut Schlegel vor allem, dass ehemalige NS-Verfolgte über ihre Erlebnisse sprechen können. „Gerade im Alter beschäftigen wir uns verstärkt mit den Geschehnissen der Vergangenheit“, sagt Regina Suderland, Vorsitzende des Verbandes und selbst ehemalige Zwangsarbeiterin.

Aber auch die spezifischen Schwierigkeiten, die überlebende Verfolgte der Nazizeit gegen Ende ihres Lebens haben, werden an den Nachmittagen thematisiert, die alle zwei Wochen in der Residenz am Dom stattfinden sollen. „In der Altenpflege können viele Fehler begangen werden, einfach weil das Personal nicht geschult ist, mit Verfolgten umzugehen“, sagt Suderland. Viele Alte versteckten beispielsweise wochenlang Essensreste unter der Matratze aus Angst, man könnte sie ihnen wegnehmen. „Wenn Leute gebadet oder geduscht werden, kommen schon mal Bilder von Gasduschen hoch“, führt Suderland an.

Was die heterogene Gruppe derer eint, die heute in das Restaurant des Altenheims gekommen sind, ist auch das Misstrauen. Gerade gegenüber Menschen ihres Alters sei sie häufig verschlossen, sagt die 79-jährige ehemalige Zwangsarbeiterin. „Ich habe ständig Angst, alten Nazis zu begegnen“, sagt Suderland. Deshalb bleibe ihre Geschichte in der Begegnung mit anderen häufig unangesprochen.

Das Schweigen ist vielen der Anwesenden aber auch aus anderen Gründen zum trügerischen Freund geworden. „Ich habe meine Erlebnisse im Ghetto eigentlich nie erzählt. Ich wollte sie lieber vergessen“, sagt zum Beispiel Jesfir Milnyk. Auch Sofie B. hat den Mund gehalten –aus Scham. „Die Leute denken, du musst ein Verbrecher gewesen sein, wenn du im Lager warst.“

Für Sofie B. war der Krieg nach 1945 nicht vorbei. Sie war nach eigenen Aussagen ein psychisches und physisches Wrack, dabei konnte sie gerade ihren 13. Geburtstag feiern. Bis heute leidet sie an Ess- und Schlafstörungen. Nach 60 Jahren sucht ihr warmer Blick voller Unsicherheit nach Verständnis in den Augen ihrer Zuhörer. Immer noch rechnet sie damit, dort Ablehnung zu entdecken. Für ihr Leben wünscht sich die 72-Jährige vor allem eines: „Ich möchte endlich mit mir, meinen Nächsten und der Welt Frieden schließen.“

Das Begegnungscafé findet jeden zweiten Donnerstag im Restaurant des Kölner Altenheims Residenz am Dom statt: An den Dominikanern 6-8, von 15 bis 18 Uhr. Am 21.4., 16.6., 8.9. und 3.11. soll aus dem Begegnungs- ein Erzählcafé werden, zu dem auch interessierte Jugendliche eingeladen sind.