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Archiv-Artikel

„Bei einem Patt hilft nur eines: die große Koalition“

Der Göttinger Politologe Franz Walter empfiehlt ein Bündnis der beiden Volksparteien – in Kiel wie auch in Berlin nach der Bundestagswahl 2006

taz: Herr Walter, Sie haben schon am Kieler Wahlabend von einem Patt der politischen Lager gesprochen. Haben Sie das gestrige Debakel von Heide Simonis vorhergesehen?

Franz Walter: Für derlei Hellseherei werden wir Politologen ja bezahlt. Aber im Ernst: Was man in der politischen Landschaft beobachten kann, ist eine Paralyse von zwei politischen Lagern. In ihrer Philosophie unterscheiden sich diese beiden Lager gar nicht fundamental, und trotzdem blockieren sie sich.

Gestern sollte der Tag sein, an dem Regierung und Opposition beim Jobgipfel diese Lähmung überwinden. Wird dieser Effekt nun verpuffen?

Auch ohne die Kieler Ereignisse könnten Regierung und Opposition bestenfalls einen Waffenstillstand schließen. An einem wirklichen Erfolg kann die Opposition gar nicht interessiert sein, weil er vor allem auf dem Konto der Regierung verbucht würde. Aus dieser Paralyse kommt man nur heraus, wenn man zumindest von Zeit zu Zeit eine große Koalition schließt.

Aber eine große Koalition führt doch gerade zu politischer Lähmung?

Die große Koalition von 1966 bis 1969 hat überhaupt keine Lähmung produziert. Das war die dynamischste Regierung, die es in der Bundesrepublik je gab. Wegen der Mehrheiten im Bundesrat müssen die beiden Volksparteien sowieso miteinander verhandeln. Da würde es Sinn machen, gleich eine Koalition zu schließen. Dann wären beide Parteien gleichermaßen an einem Erfolg interessiert.

Sind die Zeiten wirklich schon so ernst?

Die Wahlbürger werden täglich verdrossener, weil sie die Lähmung spüren und sich fragen: Warum machen die das nicht? Deshalb kommt es zu der merkwürdigen Fantasie, dass der Supermann Horst Köhler vom Präsidialamt aus die Dinge richten soll – als eine Art moderner Hindenburg. Das ist viel gefährlicher als eine große Koalition.

Bevor die Parteien ein solches Bündnis eingehen, sollten sie nicht lieber eine Föderalismusreform beschließen – und die Blockademacht des Bundesrats verringern?

Auch das wird nur mit einer großen Koalition funktionieren, weil sonst jeder seine taktischen Interessen verfolgt. Aber dazu wird es erst nach der Bundestagswahl 2006 kommen, weil der Wahlkampf eine solche Regierung sonst gleich wieder polarisieren würde. Bis dahin muss man noch mit anderthalb traurigen Jahren rechnen.

Warum dann keine vorzeitigen Neuwahlen, wenn Rot-Grün zum Beispiel die Wahl in Nordrhein-Westfalen verlieren sollte?

Weil das Grundgesetz Neuwahlen gar nicht ohne weiteres zulässt. Wenn der Kanzler mit dem Rücken zur Wand steht, wird er wieder zu großer Form auflaufen. Im Übrigen ist es auch richtig, dass sich die Parteien nicht so einfach aus ihrer Verantwortung verabschieden können.

Warum?

Weil es die Aufgabe von Parteien ist, mit den gegebenen Wahlergebnissen zu agieren. Das gilt auch bei einem Patt. Wenn die Wähler keinem der beiden Lager einen eindeutigen Auftrag erteilt haben, dann müssen sich diese Lager eben zusammenraufen.

Gilt das nur für den Bund oder gilt das auch für Schleswig-Holstein?

Das wäre von Anfang an die Konsequenz aus dem Wahlergebnis gewesen. Nur hätte die SPD dafür die Ministerpräsidentin, mit der sie den Wahlkampf bestritten hat, freiwillig aus dem Rennen nehmen müssen. Das wäre kaum zu vermitteln gewesen.

INTERVIEW: RALPH BOLLMANN