: Bescheid gewusst und weggeschaut
Ein Mitarbeiter des Jugendamtes und ein Heimleiter auf der Anklagebank. Sie hätten verhindern können, dass ein Kind zum Missbrauchsopfer und ein jugendlicher Straftäter rückfällig wird, lautet der Vorwurf. Das Flensburger Amtsgericht klärt diese Frage gut versteckt in einem winzigen Sitzungszimmer
Aus Flensburg Olaf Schechten
Eisiges Schweigen. Der Raum ist sehr klein. Für die beiden Angeklagten und ihre Verteidiger muss ein zusätzlicher Tisch in den Sitzungssaal 217 des Flensburger Amtsgerichts geschafft werden. Nebenklägerin und ihr Anwalt nehmen gleich daneben Platz. 50 Zentimeter dahinter sitzen ein paar Zuschauer: Verwandte, Kollegen, zwei Journalisten und eine unbeteiligte Zuschauerin, die zum Teil per Zufall von der Verhandlung gegen einen ehemaligen Mitarbeiter des Jugendamtes Flensburg und einen Kinderheimleiter erfuhren. Eine Pressemitteilung des Gerichts gab es nicht, „obwohl bei diesem Prozess aufgrund der Schwere der Vorwürfe ein besonderes öffentliches Interesse vorliegt“, so Nebenklägeranwalt Tobias Krull (siehe Kasten).
Der Staatsanwalt trägt die Anklageschriften vor. Der Vorwurf gegen die beiden Beschuldigten lautet: Fahrlässige Körperverletzung einer anderen Person durch Unterlassen. Hinter dieser juristischen Formulierung verbirgt sich der möglicherweise vermeidbare sexuelle Missbrauch eines fünfjährigen Mädchens im März 2002.
Jugendamt und Heimleitung hatten die Wochenendbesuche von Björn A. bei der Familie seiner Tante erlaubt, ohne die Eltern zweier kleiner Mädchen über die Risiken zu informieren, obwohl A. bereits im Herbst 2001 erste Straftaten gestanden hatte. Der 17-Jährige hatte sich einem Psychologen anvertraut und den Missbrauch mehrerer erheblich jüngerer Heimkinder zugegeben. Gerüchte und Verdächtigungen im Umfeld des Kinderheimes fanden damit schreckliche Bestätigung.
Hätte der Missbrauch vom März 2002 also verhindert werden können? Fakt ist: Der Heimleiter, der den von Experten als äußerst aggressiv eingestuften Jugendlichen seit 1998 kannte, sowie das Jugendamt Flensburg als Amtsvormund wussten unmissverständlich Bescheid. Das ergaben die Ermittlungen. Und: Anzeige wurde von beiden damals nicht erstattet. Einer weiteren betroffenen Mutter wurde ebenfalls davon abgeraten, zur Polizei zu gehen, um ihren missbrauchten Sohn vor einer Aussage zu schützen. Die Verwandtenbesuche wurden kommentarlos fortgesetzt.
Erst als die Tante ihren Neffen im März 2002 im Kinderzimmer zufällig auf frischer Tat ertappte, kam der Stein ins Rollen. „Ich hätte ihn doch keine Sekunde lang mit meinen Kindern allein gelassen, wenn ich etwas gewusst hätte“, schluchzt die entsetzte Mutter drei Jahre nach der Tat im Zeugenstand. Als sie den Heimleiter über den Missbrauch ihrer Tochter informierte, entfährt diesem ein: „Nein, nicht schon wieder.“ Beim Prozessauftakt schweigen beide Angeklagten zur Sache.
Ihre eigenen Einsprüche gegen die vom Landgericht Flensburg im Sommer 2004 erlassenen Strafbefehle mit Geldstrafen auf Bewährung hatten zu der jetzigen Amtsgerichtsverhandlung geführt. Alles, was in diesem Zusammenhang zuvor im Heim passiert war, wäre sonst wohl niemals herausgekommen. Eine Pressemitteilung gibt es automatisch erst bei Landgerichtsverfahren, so die Auskunft des Gerichts. Daher ist bei Verhandlungsbeginn von Öffentlichkeit wenig zu sehen. Von Reue oder Schuldbewusstsein der Angeklagten ebenfalls nicht.
Welche Rolle spielte nun das Jugendamt, dem im Mai 2001 die Amtsvormundschaft für Björn A. übertragen wurde? Warum handelte der Heimleiter nicht angemessen? Ihm oblag die Fürsorge. Hätte der jugendliche Sexualtäter nicht auch vor sich selbst geschützt werden müssen?
Für eine Sicherheitsverwahrung des damals 15-Jährigen oder die Zwangsumsetzung geeigneter Therapiemaßnahmen sahen die Verantwortlichen anscheinend keinen Grund. Im Gegenteil: Björn A. konnte im Frühjahr 2001 ohne konkrete Folgen eine empfohlene Therapie in Kiel abbrechen. Da waren erste Gerüchte und Verdächtigungen um seine Person schon im Umlauf. Die umgehenden Warnungen der beteiligten Psychologen an die Heimleitung fanden ebenso keine Beachtung. Dabei wurde Björn A. aufgrund seines unkooperativen und uneinsichtigen Verhaltens von Fachleuten als stark rückfallgefährdet eingestuft.
Für Anwalt Tobias Krull stellt sich ein durchaus bekannter Umgang dar: „Den Belangen eines Täters wird große Aufmerksamkeit geschenkt. Der Opferschutz wird extrem vernachlässigt.“ Es sei Zeit, die Behörden aus ihrem Schlaf zu wecken. Ohne den Missbrauch außerhalb des Heims wären die ersten Taten kaum an die Öffentlichkeit gedrungen, so seine Einschätzung.
Die Fach-Einrichtung in Kiel, die im April 2001 den Therapieversuch mit Björn A. startete und abbrechen musste, will aus diesem aktuellen Fall Konsequenzen ziehen. „Wir erwägen, in Zukunft selbst Anzeige zu erstatten, und werden uns nicht mehr mit Berichte schreiben und Telefonate führen zufrieden geben“, sagte ein Psychologe vor Gericht. Seine Warnungen und Empfehlungen an den Heimleiter seien eindeutig gewesen, wiederholte er.
Dies hat auch der Verteidiger des ehemaligen Jugendamtsmitarbeiters bisher nicht in Frage gestellt. Seine Strategie scheint sich auf die rechtliche und tatsächliche Zuständigkeit seines Mandanten zu fokussieren. Er zeigt sich im Prozess ungeduldig und kämpferisch, setzt die Nebenklägerin im Zeugenstand erheblich unter Druck. Eine Zuschauerin ist empört: „Selbst drei Jahre danach muss die Mutter des Kindes noch solche Qualen auf sich nehmen.“
Am heutigen Mittwoch wird der Prozess fortgesetzt.