: Der Sozialabbau ist die Vollendung der Entnazifizierung
Schriften zu Zeitschriften: Warum nur unsere blöde deutsche Angst, wo wir doch schön und stark sind? „Kursbuch“ und „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ zur Lage der Nation
In rhetorisch bedrängter Lage soll Alice Schwarzer einmal diesen Satz in einer Talkshow losgelassen haben: „Das macht mir richtig Angst!“ Aber wer hätte nicht schon selbst der Versuchung nachgegeben, eine politisches oder privates Herzensanliegen in dieses dramatische Selbstbekenntnis gipfeln zu lassen? Schließlich hat man gar nicht vor, sich seiner Angst zu schämen.
„German Angst“ nennt das der Berliner Publizist Richard Herzinger, der bei der Weltwoche in Zürich ist, in der März-Ausgabe des Kursbuchs. Mit dem V-Effekt des fremdsprachigen Adjektivs lädt Herzinger dazu ein, einmal von außen auf ein in seinen Augen urdeutsches Phänomen und seine verlockende „metaphysische Aura“ zu blicken: Wen diese Angst gepackt hält, der „lässt sich bereitwillig in sie hineingleiten wie in einen höheren Bewusstseinszustand, zelebriert sie als Medium einer tieferen Welterkenntnis“.
Doch was als liebenswerter nationaler Spleen erscheint, ist für Herzinger ein Politikum. Gar nicht so selten ist das Angstbekenntnis als öffentliche Kampfansage gemeint: German Angst wird dann zur Angst derer, die nicht zur Angstgemeinde zählen. Und leider nimmt Herzinger hier auch die politische Linke ins Visier. Seit den Achtzigerjahren hatte sie die Angstthemen voll im Griff: das Waldsterben, die atomare Aufrüstung, die vergiftete Nahrung. Sei doch alles nicht so schlimm gekommen, meint Herzinger.
Schlimm findet Herzinger die mit der Angst einhergehende Betriebsblindheit: „Abstrakte projektive Ängste verhindern, dass Maßnahmen zur Linderung konkreter Gefahren getroffen werden.“ Denn in der Wahl ihrer Ziele ist German Angst gar nicht so zimperlich. Heutzutage fürchte man sich vor Amerika, Israel oder vor der Türkei. Herzingers alternative Angst-Agenda: „die Ausbreitung islamistischer Netzwerke“ und „die Möglichkeit islamistischer Terroranschläge“. In ihrer diffusen Angsthaltung hätten die Deutschen doch auch glatt das Zerbröseln ihres gesellschaftlichen Wohlstandsmodells verschlafen. Aber kann es im Metaphysischen ein Falsch oder Richtig geben? Gerade ängstigen sich die Deutschen doch ganz pragmatisch wieder in konkurrenzfähige Lohnstückkosten hinein.
Doch die „German Angst“ hat für Herzinger ein nicht weniger schwammiges Komplement bekommen: ein „neues deutsches Selbstbewusstsein“, das sich in der Patriotismusdebatte der Rechten und einer auf nationale Interessen ausgerichteten Außenpolitik zeige.
Wie recht er damit hat, verrät ein Blick in die März-Ausgabe der für die Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebenen Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Thema ist der „Patriotismus von links“. Hier beklagt der Hagener Historiker Peter Brandt „die obsessiv anklagende Art und Weise“ wie die „Dauerdebatte über den Nationalsozialismus“ geführt werde, was zu „Erschöpfungs- und Überdrussreaktionen“ führe und gerade die Kräfte links von der Mitte „ernsthaft behindert“.
Und der Publizist Peter Grafe meint trotzig, dass es doch nun mal darum gehe, „was wir von uns selbst halten, nicht darum, die Erwartungen anderer zu erfüllen“. Auch die Schoah kann hier noch mal nützlich werden: „Scham und Schmerz über unser Erbe sind die Basis eines wiedererlebbaren Patriotismus. Wenn wir das Trauma verarbeiten und nicht verdrängen, wird ein stabiles neues Nationalgefühl wachsen können – insbesondere, wenn wir identifikationsfähige Leistungen erbringen“. Was kann Grafe hier meinen? Ein paar Goldmedaillen mehr und endlich mal wieder einen der oberen Plätze beim Schlager-Grand-Prix?
Ins gleiche Horn bläst der Kulturchef der Welt, Eckhard Fuhr: „Die öffentliche Bühne gehörte allzu lange einem Furor des deutschen Selbsthasses, der in diesem Milieu links-alternativer Akademiker in die neuen ökonomischen Eliten eingewandert ist.“ Beglückt sieht nun Fuhr die „Kräfte eines neuen Patriotismus wachsen“. Die zeige sich etwa in einem neuen Geschichtsbewusstsein, das „neugieriger, unbefangener, aber auch forschender“ geworden sei. Und mit Bundeskanzler Gerhard Schröders neuer Mitte seien „die Beschränkungen und Selbstbeschränkungen der Nachkriegszeit“ verschwunden.
Probleme bereite der mit der „Geschichtswende 1989/90“ scheinbar naturwüchsig einhergehende Abschied vom Nachkriegs-Sozialstaat, welcher der traumatisierten Nation lange eine „Ersatz-Identität“ gegeben habe: „Den Sozialstaat zu erneuern, bedeutet auch Abschied zu nehmen von den Resten eines volksgemeinschaftlichen Verständnisses des Sozialen.“ Warum sagt Fuhr es nicht deutlicher? Sozialabbau ist Vollendung der Entnazifizierung und der neue Patriotismus ein kostengünstiges Ersatz-Ruhekissen für die Angst.
Wer nun um den Schlaf gebracht ist, kann sich ja mal nachts vor den Badezimmerspiegel stellen und mit Fuhrs Patriotismus-Mantra üben: „Deutschland ist ein schönes und starkes Land, es ist bevölkert von klugen und tatkräftigen Menschen, es ist attraktiv für Einwanderer und Investoren.“ JAN-HENDRIK WULF
„Kursbuch 159“, März 2005, 10 €, „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“, 3/2005, 5,50 €