: Unbequeme Wahrheiten
Die Regierung Bush hat die UN-Entwicklungsberichte zur arabischen Welt gerne zitiert, als diese ihr noch nützlich waren. Heute blockiert sie die Herausgabe der Studie
Der neue „Arab Human Development Report“ (AHDR) zum Thema „Gute Regierungsführung und politische Freiheiten“ steckt fest. Die ursprünglich für Oktober 2004 geplante dritte Veröffentlichung einer Reihe von Berichten über die menschliche Entwicklung in der arabischen Welt wird derzeit von der US-Regierung hintertrieben. Zensur? Doppelstandards? Nachdem die ersten beiden Berichte, vom United Nations Development Programme (UNDP) in Auftrag gegeben, zum Mantra der Bush-Administration erhoben wurden, sollen nun USA-kritische Passagen im dritten Bericht gestrichen werden. Das war nicht immer so: In seiner berühmten Rede anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens des National Endowment for Democracy 2003 stellte George W. Bush seine „Vorwärtsstrategie für Freiheit“ auf der Basis des „AHDR“ vor. Damals waren die arabischen Autoren seine Kronzeugen.
Seit 1990 veröffentlicht UNDP Berichte über die menschliche Entwicklung, die im Anschluss an den Nobelpreisträger Amartya Sen Entwicklung als zunehmende Handlungsfreiheit des Einzelnen messen. Der erste „AHDR“ von 2002 listete zunächst allgemeine Entwicklungshindernisse auf. Schlechte Bildung, geringe politische Freiheiten und der Ausschluss von Frauen waren die drei wesentlichsten Defizite.
Die darauffolgenden Berichte sollten sich daher mit jeweils einem dieser Defizite ausführlicher beschäftigen. So thematisiert der zweite Bericht den Aufbau einer Wissensgesellschaft in der arabischen Welt. Mit Blick auf die wachsende Wissenskluft zwischen Menschen, die Zugang zu den neuen Medien haben, und der breiten Mehrheit in der arabischen Welt, die davon ausgeschlossen ist, werden notwendige Reformschritte skizziert. Der dritte Bericht soll nun gute Regierungsführung und politische Freiheiten behandeln. Der vierte, ursprünglich für 2005 geplante Bericht soll sich schwerpunktmäßig mit der Situation von Frauen in der arabischen Welt auseinander setzen.
Noch vor einem Jahr flossen die bisher veröffentlichten Berichte in fast jedes Strategiepapier der Bush-Regierung ein. Im Februar 2004 veröffentlichte die renommierte arabische Tageszeitung al-Hayat überraschend ein amerikanisches Arbeitspapier in Vorbereitung auf den G-8-Gipfel auf Sea Island, das in großen Teilen den „AHDR“ zitierte. Bis auf den Teil zur Wirtschaftspolitik wurden Diagnose und Empfehlungen aus den Berichten übernommen.
Das Arbeitspapier löste heftige Kritik in der arabischen Welt aus, da es weder mit den arabischen Regierungen noch mit den Autoren des „AHDR“ abgestimmt war. „Diese Initiative wurde ausgesprochen schlecht kommuniziert“, stellt Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik fest. Auch Nader Fergany, Hauptautor des „AHDR“, kritisierte den Missbrauch der Berichte. Die von den Amerikanern vorgeschlagene Greater Middle East Partnership würde sich auf die arabischen Entwicklungsberichte stützen wie ein Betrunkener, der sich an einen Laternenpfahl klammert – „nicht um erleuchtet zu werden, sondern um nicht umzufallen“, erwiderte Fergany in al-Hayat. Ihm war klar, dass der Umarmungsversuch den arabischen Reformempfehlungen nur schaden würde. Aus der entwicklungspolitischen Praxis hört man, dass die regionalen Vertretungen der US-Initiative händeringend nach Möglichkeiten für den Mittelabfluss suchen, da kaum ein arabischer Verein ihr Geld annehmen will.
Der deutsche Bundestag hat am 28. Mai 2004 über die Initiative debattiert. Dabei kamen in allen Beiträgen die katastrophalen Auswirkungen der Menschenrechtsverletzungen in Abu Ghraib auf westliche Reformempfehlungen zur Sprache. Die Marginalisierung der UN, die Aushöhlung des Rechtsstaats und die Aufhebung zentraler Bürgerrechte konterkarieren den amerikanischen Demokratisierungsanspruch in der Region.
Das Demokratisierungsprojekt hat in erster Linie ein Glaubwürdigkeitsproblem, das die US-Regierung jedoch offensichtlich nicht zu stören scheint. Denn nun droht sie UNDP mit Budgetkürzungen, falls der dritte Bericht veröffentlicht wird. Auch die ägyptische Regierung hat sich diesem Vorgehen angeschlossen. Dabei gab es auch schon in den ersten beiden Berichten Kritik an den nationalen Regierungen und der Nahostpolitik der USA – nur wurde diese geflissentlich übersehen. Es ist anzunehmen, dass Nader Fergany und seine Koautoren im dritten Bericht noch deutlicher volle Souveränität für Irak und Palästina fordern.
Seit Oktober letzten Jahre verstummen die Gerüchte nicht, dass es hinter den Kulissen erhebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen Nader Fergany und der US-Regierung gibt. In einer Pressemitteilung vom 22. Dezember 2004 versucht UNDP den Spekulationen über den Verbleib des Berichts entgegenzutreten und dementiert Berichte über die Drohungen der USA. Allerdings weist UNDP selbst darauf hin, dass es Überlegungen gebe, ein neues, unabhängiges Institut in der Region zu gründen, welches den Bericht veröffentlichen könnte.
UNDP argumentiert, ein solcher Schritt würde den Autoren alle Freiheiten garantieren. Warum diese in der Region größer sein sollten als in New York, ist allerdings nicht nachvollziehbar.
Rami Khoury, leitender Redakteur der libanesischen Tageszeitung Daily Star, schlägt vor, ein Arab Human Development Center zu gründen, um dem UNDP zu ermöglichen, sein Gesicht zu wahren und sich gleichzeitig dem Druck der USA zu entziehen. Er forderte die arabische Seite auf, fünf Millionen Dollar zu spenden, um ein unabhängiges Institut zu gründen. In welchem Land dieses Institut entstehen soll, sagt auch Khoury nicht. Nader Fergany gibt nun an, dass der Bericht am 4. und 5. April offiziell in Amman vorgestellt werden soll. Ob das zutrifft, bleibt abzuwarten. Vor allem wird es interessant sein, wie viel von der Kritik an der amerikanischen Nahostpolitik übrig ist.
Die große Umarmung nach den beiden ersten Berichten hat den Reformempfehlungen der Autoren geschadet. Nun gewinnen sie zwar ihre Autonomie wieder. Aber das Demokratisierungsprojekt der USA verliert sein letztes Quäntchen Glaubwürdigkeit. Endlich gibt es eine Gruppe von seriösen Wissenschaftlern aus verschiedenen arabischen Länden, die von innen her kritisieren und Reformdruck auf ihre jeweiligen Regierungen ausüben wollen, und nun greifen die USA auf die beliebteste Variante der arabischen Repressionsapparate zurück: Bringt sie zum Schweigen!
Genauso schaffen die USA es, ihre eigenen Rede von der Demokratisierung des Nahen Osten zu konterkarieren und jegliche Initiative aus der Region zu diskreditieren. Thomas Friedman, scharfzüngiger Kommentator der New York Times und langjähriger Beobachter von Reformen in der arabischen Welt, schreibt ernüchtert, die Vorgänge seien „zum Heulen“. Die Demokratisierung des Irak als Leuchtfeuer für die ganze arabische Welt verliert auch für diejenigen an Leuchtkraft, die an sie geglaubt haben.
SONJA HEGASY