: Zwanzig Jahre deutsche EinheitDer Weg der Steine
Eine Spurensuche im Norden der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Heute: Von der Ostsee an die ElbeGRENZERFAHRUNGEN (I) 157 Kilometer mit Fahrrad und Schiff an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, vorbei an abgeschiedenen Flusslandschaften, verfallenen Gutshöfen – und wieder aufgebauten Grenzanlagen
Mit dem Fahrrad an der Grenze entlang führt Michael Cramer in dem Bikeline-Radtourenbuch „Deutsch-Deutscher Radweg. Am grünen Band von der Ostsee zur tschechischen Grenze“, Verlag Esterbauer, 2007, www.esterbauer.com
■ Alternativ sind die ADFC-Regionalkarten aus dem Bielefelder Verlag zu empfehlen, www.fahrrad-buecher-karten.de
■ Grenzmuseum Schlutup im ehemaligen Zollhaus, Öffnungszeiten Fr 14–17 Uhr, Sa / So 11–17 Uhr, ☎ 0451 / 69 33 990; www.grenze-luebeck.de
■ Wakenitzfahrten: Reederei Quandt, Wakenitzufer 1c, 23564 Lübeck, ☎ 0451 / 79 38 85; www.wakenitz-schifffahrt-quandt.de
■ Eine Beschreibung des Wanderwegs Draegerweg ist zu finden unter www.luebeck-tourismus.de
■ Grenzhausmuseum Grenzhus, Neubauernweg 1, 19217 Schlagsdorf, Öffnungszeiten Mo–Fr 10–16.30 Uhr, Sa / So 10–18 Uhr, ☎ 038875 / 20 326, www.grenzhus.de
■ Infozentrum Biosphärenreservat Schaalsee, Pahlhuus, Wittenburger Chaussee 13, 19246 Zarrentin, Öffnungszeiten Di–So 10–17 Uhr, www.schaalsee.de
VON SVEN-MICHAEL VEIT
Es ist ein Weg der Steine, der Gedenksteine. Im Ostseebad Travemünde, am einstigen Grenzübergang im Lübecker Stadtteil Schlutup, der jetzt ein Museum ist, und am Bahnhof Büchen stehen sie entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, Findlinge aus grauem oder rotem Granit mit bedeutungsschweren Inschriften. „Nie wieder geteilt“ über den Landeswappen von Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein oder „Slut up getrennt 1945 – 1989“ wurden 1990 in Stein gemeißelt, „Büchen Tor zur Freiheit“ steht bereits seit 1955 und deshalb leicht verwittert auf dem einstigen BRD-Grenzbahnhof an der Transitstrecke zwischen Berlin und Hamburg.
Und wenige Kilometer nordöstlich in der Nähe der Autobahnraststätte Gudow, deren Betonplatten auf Parkplatz und Auffahrt noch heute erkennen lassen, dass hier der DDR-Grenzkontrollpunkt an der Transitautobahn war – dort also, wo das Sträßchen dritter Ordnung von Fortkrug nach Bröthen durch ein einsames Waldstück führt, erinnern ein Kreuz und ein Gedenkstein an Michael Gartenschläger.
In der Nacht zum 1. Mai 1976 wird der 32-jährige Hamburger Tankstellenpächter wenige hundert Meter entfernt von einem Sonderkommando der Staatssicherheit erschossen. Er versuchte, am Grenzzaun eine Selbstschussanlage abzubauen, um die Existenz der Tötungsmaschinen zu beweisen, welche die DDR bis dahin abgestritten hatte. Im März und April gelang Gartenschläger das bereits zwei Mal, der dritte Versuch wird dem Mann, der in der DDR als politischer Gefangener inhaftiert und 1971 von der Bundesrepublik freigekauft wurde, zum Verhängnis.
Gartenschlägers Leichnam wird im Stasi-Auftrag auf dem Waldfriedhof von Schwerin als „unbekannte Wasserleiche“ beigesetzt. Noch 30 Jahre später, im Frühjahr 2006, lehnt es die Stadtversammlung seines brandenburgischen Heimatortes Strausberg bei Berlin ab, eine Straße nach Michael Gartenschläger zu benennen. Auf seinem Gedenkstein am Waldweg steht: „Er rüttelte am Gewissen der freien Welt“.
157 Kilometer lang ist der nördlichste Abschnitt der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze von der Ostsee bis zur Elbe. Der einstige Todesstreifen ist in weiten Abschnitten ein grünes Band, denn in dem Niemandsland konnten sich Flora und Fauna nahezu ungestört entwickeln. Am nächsten kommt man dem Grenzverlauf mit dem Fahrrad auf den Kolonnenwegen der DDR-Grenztruppen, soweit diese Lochbetonstrecken noch erhalten sind.
Östlich der Travemünder Halbinsel Priwall erstreckt sich ein fast naturbelassener Strand, wie er erst wieder in Polen und im Baltikum zu finden ist. Auf gut 14 Kilometer Länge bis fast zum Ostseebad Boltenhagen war er zu DDR-Zeiten mit Mauern und Zäunen versperrt. Gleich nach der Wende wurden die Dünen und Wäldchen zu oft nur wenige hundert Meter breiten Naturschutzgebieten erklärt – sonst wären sie wohl längst einer durchgehenden Ferienhaussiedlung gewichen.
Relativ unberührt sind auch die Pötenitzer Wiek und der Dassower See. Diese Buchten der Trave kurz vor ihrer Mündung in die Ostsee gehörten zur BRD, das Ufer aber zur DDR. Weil die Naturschutzgebiete nicht mal mit dem Kajak befahren werden durften, entwickelten sie sich zu Vogelbiotopen erster Güte. Die Bewohner von Pötenitz und Dassow hatten nichts davon: Meterhohe Mauern trennten sie von der Trave, das Gut Johannstorf mit dem Wasserschloss wurde dem Verfall überlassen.
Die Zeit scheint dort so stehen geblieben zu sein, dass es im vorigen Jahr als Kulisse für „Das weiße Band“ taugte. Der deutsche Film, der Ende Mai bei den Filmfestspielen in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, spielt kurz vor dem Ersten Weltkrieg – und viel moderner sieht Johannstorf in der Tat nicht aus. Immerhin wurde das Gut nicht geschleift wie andere Grenzorte: Vom nur wenige Kilometer entfernten Bardowiek zeugen nur noch Protestparolen auf dem Trafoturm an der Landstraße.
In deutsch-deutscher Abgeschiedenheit hat die Wakenitz ihren Charme bewahrt, wenngleich der gern bemühte Begriff „Amazonas des Nordens“ ein wenig hoch gegriffen ist. Wie schon der aus dem Slawischen stammende Name „Barsch-Fluss“ nahe legt, ist das nicht einmal 15 Kilometer lange Grenzflüsschen, das aus dem Ratzeburger See kommt und in Lübeck in die Trave mündet, äußerst fischreich. Am besten ist der oft nur 30 Meter breite Fluss mit dem Kanu oder den flach gehenden Ausflugsschiffen der Reederei Quandt von Lübeck bis Rothenhusen am Ratzeburger See zu erkunden. Das Westufer zieren drei Ausflugslokale in regelmäßigen Abständen – diese sind auch zu Fuß auf dem jedoch nicht immer direkt am Fluss entlangführenden, 18 Kilometer langen Drägerweg erreichbar. Das Ostufer ist von undurchdringlich scheinendem Unterholz bewachsen.
Früher warnten dort die schwarz-roten Grenzpfähle der DDR vor dem Anladen im sozialistischen Teil Deutschlands – jetzt lugt gelegentlich ein Nandu durch den Blätterwald. Vor etwa zehn Jahren brachen einige der südamerikanischen Laufvögel von einer Straußenfarm auf der schleswig-holsteinischen Seite aus, inzwischen bevölkern um die 100 wildlebende Tiere beide Ufer. Gejagt werden dürfen sie nicht und Fressfeinde haben sie nicht – eine Erfolgsgeschichte der Zuwanderung ins vereinte Deutschland.
Brunshorst und Stoffershorst hießen die beiden Höfe auf mecklenburgischer Seite, die von der DDR platt gemacht wurden. Zu nah an der Grenze lagen diese Opfer der deutsch-deutschen Teilung, und auf dem Schiff macht Kapitän Kay Thurau auf die Lichtungen mit den verwilderten Obstbäumen aufmerksam.
Wenige Kilometer weiter zeugt eine Lichtung auf dem Westufer von einem Verlierer der Wiedervereinigung, dem Weiler Nädlershorst, der im Volksmund „Russische Botschaft“ hieß. Ein russischer Kriegsgefangener, der auf einem Gut auf der mecklenburgischen Seite arbeitete, floh im Mai 1945 vor der anrückenden Roten Armee über die Wakenitz nach Westen. In Nädlershorst fand er später Arbeit und betrieb eine kleine Schankwirtschaft – die Russische Botschaft. 2003, ein Jahr nach seinem Tod, mussten die letzten zehn Einwohner der 320 Meter langen Wakenitzbrücke weichen, die zur Ostseeautobahn A 20 gehört, dem größten Projekt des „Verkehrsprogramms Deutsche Einheit“.
Mit der deutsch-deutschen Vergangenheit setzt sich das „Grenzhus“ auseinander, das Museum der innerdeutschen Grenze nordöstlich von Ratzeburg in Schlagsdorf. Die Grenze verlief vor dem Dorf durch den Mechower See, den die Dorfbewohner sehen, aber nicht betreten konnten. Mehr als 40 Jahre war Baden verboten. Auf einem fußballfeldgroßen Freigelände sind Grenzanlagen mit Originalteilen nachgebildet: Metallgitterzaun, KFZ-Sperrgraben, Hundefreilaufanlage, Beobachtungsbunker, Wachtürme, Betonsperrmauer. Mindestens 100 Meter, je nach Gelände bis zu zwei Kilometer breit waren diese Grenzstreifen. In Schlagsdorf kann man sie von beiden Seiten angehen – von Osten und von Westen. Bedrückend sind beide Annäherungen.
Die restlichen Kilometer bis zur Elbe führen durch eine hügelige, waldreiche Moränenlandschaft mit nur wenigen verschlafenen Dörfern. Das Unesco-Bio-sphärenreservat Schaalsee und den angrenzenden Naturpark Lauenburgische Seen behandelt das Naturinfozentrum Pahlhuus in Zarrentin.
Auf der anschließenden flachen Strecke am Elbe-Lübeck-Kanal bis nach Lauenburg liegen zwei durchaus eigenwillige Höhepunkte wenige Kilometer von der Grenze entfernt. Der einstige DDR-Bahnhof Schwanheide war jahrzehntelang ein Brennpunkt deutsch-deutschen Grenzverkehrs. Und dem Jugendbahnhof Hollenbek, der auf Geheiß von Kaiser Wilhelm II. erbaut wurde, und wo heute die Waggons in den Bäumen hängen, sagen manche eine rosige Zukunft vorher.
NÄCHSTEN SAMSTAG TEIL II: Der Grenzbahnhof Schwanheide