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Archiv-Artikel

Willkommen in der Kleine-Leute-Gegend

Charlottenburg ist nicht nur heile Welt: Der Mierendorffplatz macht es vor. Für neoliberale Gesellschaftsumwandler ist es der perfekte Mikrokosmos zum Üben: Hier residieren Unternehmensberater, leben Arbeitslose und blühen kleine Wirtschaftsoasen

von WALTRAUD SCHWAB

Sozialökonomisch gesehen spiegelt sich am Mierendorffplatz die Welt: Im Norden dominiert PriceWaterhouseCoopers, global agierende Unternehmensberatung, im Süden die Depression. Im Westen gibt es viel Arbeitslosigkeit, im Osten vereinzelt prosperierende Oasen. Wie der Märklinladen etwa.

Im Märklinladen kauft nicht nur ganz Berlin: Aus allen Ecken Europas reisen sie an, sogar aus China kommen Bestellungen. In Schaukästen an den Wänden werden sämtliche Zugmodelle in Miniaturformat feil geboten, die jemals in Deutschland gebaut wurden. „Modelleisenbahnen, das ist was Deutsches“, sagt der junge Mann hinterm Tresen.

Die Männer mit Jungenaugen, die vor den Vitrinen mit den Modellen stehen, sind auf eine angespannte Weise erstarrt. Wie lebende Kinderstatuen sehen sie aus – bereit, jederzeit zuzugreifen. Und sie greifen zu. Sie konsumieren Wertarbeit. Made in Germany. Sie kaufen eine Tenderlokomotive mit Digitalschnittstelle für 349 Euro. Oder einen Bierkühlwagen nach dem Original der bayrischen Staatsbahnen für 33,20 Euro. Einmal im Leben auch einen „Ostdeutschen Teppichklopfer“, eine umgespritzte Lok aus alter Kriegsproduktion. Preis: 97,50 Euro.

Der Märklinladen am Mierendorffplatz – fünf Angestellte, drei Azubis – arbeitet gegen die Depression an, die sich über diesen Flecken Charlottenburgs gelegt hat. Frag sieben Passanten und fünf antworten: „Der Mierendorffplatz ist tot.“ Die Sechste sagt: „Früher hatte er mal Flair.“ Nur der Siebte hat noch Hoffnung: „Es liegt am Wetter, alles am Wetter. Wenn’s warm wäre, dann wäre was los.“

Der Wedding lässt grüßen

Am Mierendorffplatz wird mit dem Klischee aufgeräumt, dass Charlottenburg eine wohlhabende Enklave in der Riege der neoverarmten Bezirke Berlins ist. Eine Nische, in der sich Westberlin hält, eine, wo von alten Zeiten geträumt und auf bessere gehofft wird. In diesem Kiez, eingekeilt zwischen Spree, Moabiter Industriegebiet und Ringbahn, lassen Wedding, Neukölln und Kreuzberg grüßen.

Dabei ist zumindest die nördliche Hälfte des Platzes sehr schön. Aufwändig wurde sie nach den Plänen des Städtischen Gartenbaudirektors Erwin Barth aus dem Jahr 1912 rekonstruiert. In der Mitte ist ein Brunnen, der, wenn er fließt, seine Fontäne weit in die Luft spritzt. Drumherum ein Blumengarten, gesäumt von Platanen. Selbst die Wegbeläge, die Tore, schmiedeeisernen Lampen und Bänke des sozial gesinnten Gartenarchitekten kommen wieder zur Geltung.

Der Mierendorffplatz war immer schon die Kleine-Leute-Gegend Charlottenburgs. Zwei Frauen mit Miniaturhunden werfen Bälle über den Rasen. Aber Nicki, der Spitz, und Lena, der Mischling, sind müde. „Die Leute sind arm geworden“, sagt das Frauchen von Nicki.

Überthront wird das Areal von einer modernen Festung, in der PriceWaterhouseCoopers residiert. Ein modernes Gebäude mit blaugetönter Glasfassade ist es, das imposanteste am Ort, dem ein launischer Architekt ganz oben auf dem Dach eine geschwungene Form gab, die dem Repertoire orientalischer Ornamente entlehnt ist. Mächtig behauptet das Gebäude die Stellung. Kein Wunder, denn hier sitzen die Vordenker, die das Inhaltsverzeichnis neoliberaler Wertschöpfung aus dem Effeff beherrschen: Human Resources Service, Fusions- und Übernahme-Engineering, Gewinnmaximierung, Produktivitätssteigerung, Rationalisierung, Outsourcing. Auch die Stadt Berlin hat die Dienste des Unternehmens in Anspruch genommen. Keine öffentliche Dienstleistung, die von Consultants der PriceWaterhouseCoopers-Spezies nicht in pekuniäre Koordinaten gepresst wurde. Von der Zeit, die das Zähneputzen einer Bettlägrigen in einem Pflegeheim dauern darf, bis hin zur Bearbeitungszeit eines Antrags auf einen Behindertenparkplatz. Immer gilt: Maximierung, Optimierung, Qualitätsnormierung.

Wie das ausgeht? Ein Spaziergang an der Westseite des Platzes zeigt es. Neben ein paar Döner-Imbissen, dem Wettbüro, in dem auch Pizza verkauft wird und das sich deshalb „Villa Kunterbunt“ nennt, dem Bestattungsunternehmen und dem Discounter ist nicht viel geblieben. Ein Drittel der Läden steht leer. Der Blumenhändler mittendrin hält sich grade mal so. „Nichts los“, sagt er, „kein Mensch auf der Straße. Ich kenne den Platz noch, da war hier Bambule.“ Was für ’ne Bambule? „Na, da hat der Bär gebrummt.“ Die Leute haben kein Geld mehr, aber er frage sich, wo sie alle geblieben seien. Noch nicht einmal mehr aus dem Haus kommen sie. Drüben auf der Ostseite des Platzes, da in der Kunsthochschule, da sei manchmal Leben, wenn nicht gerade Semesterferien sind. Dann säßen die Studenten im Café Carow. Das kann sich sehen lassen. Auf extravagante Entsagung gestylt wurde es.

Drei Fachbereiche sind in dem alten Backsteingebäude der Hochschule untergebracht: die Fakultäten für Gestaltung, für Musik und für Darstellende Kunst. Am Haus hängt ein Schild, das an Mierendorff, den Namensgeber des Platzes, erinnert: Pazifist, Reichstagsabgeordneter, SPD, Konzentrationslager, Widerstandskämpfer, Kreisauer Kreis. Bei der Bombardierung Dresdens am 4. Dezember 1943 kam er ums Leben.

Brennender Schmerz

Zurück auf der Westseite des Platzes wird der moderate Abgesang des Floristen von den Stimmen aus der Kneipen „Zum kleinen Markt“ übertönt. Nano sitzt am dunkelbraunen Tresen. Er hatte 30 Jahre lang den Elektroladen „Nowy“ am Platz. Musste aufgeben. Gegen Media-Markt kam er nicht an. Letzten Herbst ist zudem seine Frau an Brustkrebs gestorben. Jetzt fließt ihm das Bier durch die Kehle. Den brennenden Schmerz lindert es. „Ich kenne alle Häuser hier. Hab die Antennen gelegt. Wir Kleine, wir sind nichts.“ Wertarbeit bräuchten die Leute nicht mehr. Wer lasse noch seinen Videorekorder reparieren, wenn er für 40 Euro ’n neuen DVD-Player kriegt? Der schwerhörige Opa und Bernd – „schreiben Sie, dass ich ’ne Frau suche“ – stimmen zu. In der Kneipe liegt die gefühlte Arbeitslosigkeit bei 80 Prozent. Früher hätten sie immer gesagt: „Gesoffen und gebumst wird immer“, meint Bernd. Wenn es so ist, im kleinen Markt passiert es nicht mehr. „Selbst die Kirche nebenan ist zu verkaufen.“

Das stimmt. Das Aufgegebene am Gotteshaus Maria Himmelfahrt hängt dem 70er-Jahre Bau, der baulich ein klein wenig mit der Backsteinfassade der Kunsthochschule harmoniert, als Patina an. Staubige Fenster, zugezogene Vorhänge, verwaschene Notizen im verrosteten Aushang. „Das Pfarrbüro ist aus Einspargründen nicht mehr geöffnet.“ Auf eine komische Weise ist die Zeit stehen geblieben. Dafür spricht auch das Graffito auf dem Telefonkasten an der Ecke gegenüber: „Nieder mit § 218“ steht drauf. Wenn das der letzte Protest war, dann sind einige Entwicklungen an dem Platz hier vorbeigegangen.

Wie ein Wunder kommt in diesem Moment ein Mann aus dem eigentlich verlassenen Gebäude. „Sie suchen?“, fragt er. Er sei der ehemalige Kirchenmusiker und Hausmeister. Jetzt freigestellt. Zeigen dürfe er die Kirche niemandem. Nur zum Üben darf er ab und zu rein. Irritiert ist er, weiß nicht, was er zum Mierendorffplatz sagen soll. „Früher haben die Glocken geläutet. Nicht jedem zur Freude. Aber selbst das tun sie nicht mehr.“