Der Mythos des Besonderen

Friedrich I. ernannte 1705 das Dorf Lietzow zur Stadt Charlottenburg. Es dauert noch 150 Jahre, bis aus dem erbärmlichen Haufen eine Großstadt wird, die dann von Berlin eingemeindet wird. Heute versucht sich der Stadtteil als City West zu profilieren

Von 1900 bis 1914 war Charlottenburg die reichste Stadt Preußens … … in den 1920er- Jahren die moderne und „bessere Hälfte“ der Weltstadt Berlin

von Rolf Lautenschläger

In einer kunstvoll angelegten Schwarzweißgrafik hat die Künstlerin Katharina Meldner 1980–1983 einen Westberliner Stadtplan aufgezeichnet. Es ist kein fotografisch genaues Abbild des Stadtgrundrisses. Die „Stadtkarte“ lässt vielmehr ein imaginäres Berlin erscheinen, in dem die für Meldner wichtigen Straßen und Plätze in hellem Weiß aufleuchten, andere Viertel dagegen bleiben quasi als Terra incognita im Dunkeln: Strahlend hell spiegeln sich der Kurfürstendamm, die Kantstraße bis hinaus in den Westen, die kulturell bedeutsamen Quartiere zwischen Zoologischer Garten und der Uhlandstraße sowie die Fläche der Technischen Universität (TU). Unterbelichtet dagegen sind Wilmersdorf oder große Teile von Schöneberg.

Es ist kein Zufall, dass die „Berliner Stadtkarte“ aus den 1980er-Jahren Westberlin mit Charlottenburg fast synonym gesetzt hat. Der Ku’damm samt Nebenstraßen bis hinüber zum Savigny- und hinauf zum Adenauerplatz war der Nabel der Welt in der Frontstadt. Und er schickt sich jetzt erneut an, nach Jahren des ökonomischen und kulturellen Niedergangs und der Abwanderungen an den Potsdamer Platz und in den Osten der Stadt, in der sich entwickelnden Kapitale es wieder zu werden – per verordnetem Kraftakt von Wirtschaft, Kultur und Politik.

300 Jahre zuvor war es auch eine allerhöchste Order gewesen, die das Dörfchen Lietzow samt gleichnamigem Lust- und Jagdschlösschen zur „Stadt Charlottenburg“ katapultierte. Zur Erinnerung an seine Frau, die Preußische Königin Sophie Charlotte, die Anfang Februar 1705 verstorben war, beschloss ihr Gatte König Friedrich I., die Verblichene auf besondere Art zu ehren. Obwohl die Ehe schwierig verlaufen war, die weltgewandte Sophie Charlotte sich statt zu Friedrich mehr zu den Künsten und den Wissenschaften hingezogen fühlte – mit Leibniz gründete sie 1700 die Akademie der Wissenschaften –, setzte der König ihr ein Denkmal. Zur Erinnerung an Sophie Charlotte verlieh er am 5. April 1705 den paar Lietzower Häuschen den Status der „Stadt Charlottenburg“. Die von Johann Friedrich Eosander 1701/02 umgebaute Residenz Schloss Lietzenburg zur Dreiflügelanlage wurde namensgleich in „Schloss Charlottenburg“ umgetauft.

Der König meinte es ernst damals, im Hofjournal schrieb sein Oberzeremonienmeister von Besser: „Seine Majestät fuhren Anfang April nach Lützenburg und veränderten diesen Namen in den Namen Charlottenburg zum ewigen Andenken der unvergleichlichen Sophie Charlotte.“ Der Gebrauch des alten Namens werde verboten, wer ihn dennoch gebrauche, sollte mit einer Strafe „von 16 Groschen belegt werden“.

Bis zur eigentlichen Stadtwerdung Charlottenburgs verging indes über ein Jahrhundert. 1711 zählte man im von Eosander von Göthe südlich des Schlosses – entlang der heutigen Schlossstraße – angelegten rechtwinkligen barocken Stadtgrundriss nur „87 wirklich sesshaft gemachte Personen“. Weit draußen vor den Stadtmauern Berlins lebte ein kleiner Hofstaat, der heutige Kurfürstendamm war kaum mehr als ein besserer Feldweg hinüber nach Charlottenburg. 1740 bezeichnete der Pfarrer Gottfried Dressel Charlottenburg noch als „erbärmlichen Ort“, der künstlich am Leben gehalten werde.

Erst Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Ansiedlung von Ausflugsgaststätten, Mühlen und kleinen Villen als Sommerresidenzen adeliger sowie betuchter Bürger gewann das Fleckchen an der Peripherie an Größe: 1780 zählte Charlottenburg 2.400 Bewohner, 3.400 waren es im Jahr 1800, und auf 10.000 stieg die Zahl 1855.

Die Wandlung von der Idylle zur Berliner Großstadt mit fast 200.000 Menschen verdankt Charlottenburg der Industrialisierung und der Stadterweiterung ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Im „Neuen Westen“ siedelten die Gewinner der Gründerzeit. Die Millionäre Berlins wohnten entlang der Schloss- und Kantstraße, während gleichzeitig die Arbeitermassen in den Mietskasernen Kreuzbergs versanken.

Als Bismarck 1870 den 3,5 Kilometer langen Kurfürstendamm zum 53 Meter breiten Boulevard ausbauen ließ – eine stadtplanerische Konkurrenz zu den Champs-Élysées –, galt es schon lange als schick, rund um den Kurfürstendamm und in Nachbarschaft der 1895 als zentrale Landmarke gebauten monumentalen Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in den Bürgerpalästen mit Türmchen und Säulchen zu wohnen.

Den Bürgern folgten die Geschäftsleute, die großen Bühnenpaläste wie das Theater des Westens und die Kinos. Zwischen 1900 und 1914 war Charlottenburg die reichste Stadt Preußens, in den 1920er-Jahren die moderne und „bessere Hälfte“ der Weltstadt Berlin mit Kabaretts und Kinos, Theatern und einem blühenden Literaturbetrieb.

Die Modernität der Stadt spiegelte sich auch in den Architekturen für Industrie, Gewerbe und Medien. Am Charlottenburger Spreebogen zeugen bis dato die AEG-Werke von der einstigen wirtschaftlichen Kraft des Stadtbezirks, ebenso Poelzigs Haus des Rundfunks oder die Messe. Dass die Stadt dem wirtschaftlichen Niedergang in den 1920er-Jahren ebenso wenig Paroli bieten konnte wie nach dem Fall der Mauer 1989, verdeutlicht ein Blick in das literarische Charlottenburg jener Zeit. Hinter den dicken Mauern der Bürgerpaläste, quasi „hinter der Fassade“, beherrschte die soziale, wirtschaftliche und politische Fragilität den Alltag. In Walter Benjamins „Berliner Kindheit“, dann Gabriele Tergits „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ und schließlich in Christopher Isherwoods „Leb’ wohl Berlin“ durchwandert man alle Zeitschichten des modernen Charlottenburgs von der Bürgeridylle um 1900 über die Hungerjahre des Krieges 1914–1918, die Wirtschaftskrise und Inflation bis zum heraufziehenden Nationalsozialismus in den Kneipen, den Straßen, Pensionaten, Wohnungen und Hinterhöfen Charlottenburgs, das im Zweiten Weltkrieg zu über 60 Prozent zerstört wurde und beim Wiederaufbau als Sinnbild des modernen Westens herhalten musste.

Obwohl schon seit 1920 keine eigene Stadt mehr, ja, seit der Fusion mit Wilmersdorf, nicht einmal mehr eigenständiger Bezirk, pflegt Charlottenburg dennoch seinen Mythos eigener Berliner Besonderheit und Gegenbild zum historischen Zentrum. Dass jene spezifische Mischung, das typische Westberlin aus Ku’damm und „Kranzler“ zu zweifelhaftem Ruhm gelangte, scheint egal. Mit „City West“ glaubt sich Charlottenburg erneut einen Namen mit Zukunft zugelegt zu haben, der wieder hell strahlen soll.