Armutszählung am Broadway

Aus dem Spalt lugt ein Paar Füße hervor. Die Zählerin macht ein Kreuzchen

AUS NEW YORK FELIX SERRAO

Es ist kurz nach Mitternacht, als Elisabeth Isralowitz’ erster Versuch gründlich in die Hose geht. Der alte Mann verschränkt die Arme vor der Brust und bläst der 1,50 Meter großen Pädagogikstudentin aus Team 128L aufreizend langsam seinen Zigarrenqualm ins Gesicht. „Ich arbeite für die Stadt, haben Sie heute Nacht einen Ort, den Sie Zuhause nenn…?“ – weiter kommt die junge Frau nicht. Der Alte kneift die Augen zusammen, drückt ihr einen Dollarschein in die Hand und lässt sie stehen. New Yorker Charme: Wer nervt, kriegt einen Dollar: Schweigegeld.

Charmant sein muss auch Michael Bloomberg. Im November will New Yorks Bürgermeister wiedergewählt werden. Eine Zahl stört in seiner Bilanz besonders: die der Obdachlosen. In den Notunterkünften der Stadt schlafen pro Nacht so viele Menschen wie nie zuvor: rund 36.000, fast die Hälfte davon Kinder. Dazu kommen tausende, die auf Parkbänken oder in U-Bahn-Schächten übernachten. Die Coalition for the Homeless, eine New Yorker Hilfsorganisation, schätzt, dass jeder 20. Bewohner der 8-Millionen-Stadt einmal vorübergehend obdachlos wird. Als Reaktion hat Bloomberg vor zwei Jahren die „Homeless Outreach Population Estimate“ ins Leben gerufen und aus den Anfangsbuchstaben die etwas bemühte Abkürzung „Hope“ geformt. Die Zählung deckt erstmals alle fünf Stadtbezirke ab. Hunderte Freiwillige befragen eine Nacht lang Passanten nach ihrem Zuhause. Ich mache etwas, will der Bürgermeister mit der Aktion sagen. Für meine Wiederwahl, ergänzt die Hilfsorganisation. Sie wirft ihm vor, die Obdachlosenzahlen nach oben zu korrigieren, um als erfolgreicher Macher dazustehen. Das Ergebnis von „Hope 2004“ war, dass es 5 Prozent weniger Wohnungslose als im Vorjahr gibt. Die Hilfsorganisation kam auf 12 Prozent mehr. Sie kritisiert auch, dass die Stadt die genauen Daten der Zählungen geheim hält. Hope 2005 nennt sie „eine politische Kampagne“. Die wahren Ursachen der Obdachlosigkeit blieben unberührt: Armut und immer weniger bezahlbarer Wohnraum für Menschen mit wenig Geld.

Den jungen Manhattanern ist die Motivation ihres Auftraggebers herzlich egal. In der Cafeteria der staatlichen Audubon-Grundschule, einem selbst für US-Verhältnisse tristen Arrangement aus Linoleum, Rost und kaputten Leuchtstoffröhren, trifft Elisabeth Isralowitz um 22.30 Uhr die beiden anderen Mitglieder der Gruppe 128L, die Sambalehrerin Lichiana Amigo und den Parkaufseher Joe Westcott. Wie die meisten der rund 70 Freiwilligen, die sich hier auf die Zählung vorbereiten, sind die drei liberal, locker und engagiert. Sie reden von ihrer „Bürgerpflicht, Schwachen zu helfen“, ohne dass es wohltätig-elitär klingt.

„Ich will einfach nur helfen“, sagt Tanzlehrerin Amigo und wirft zur Betonung ihre schwarzen Locken in den Nacken. „Das ist meine spirituelle Pflicht.“ Zusammen mit dem zurückhaltenden Westcott und Gruppenleiterin Isralowitz, die mit Igelfrisur und zahlreichen Ohrsteckern eher aussieht, als würde sie nachts im East Village Platten auflegen, als dass sie tagsüber Grundschulpädagogik paukt, ist Amigo in dieser Nacht im Norden Manhattans unterwegs. Genauer: in den Washington Heights, einem schmalen Streifen Land oberhalb der 155. Straße, zwischen Hudson und Harlem River. Das andere Manhattan ist hier weit weg, jene parfümierte „Sex and the City“-Version von New Yorks Mitte. In den Heights lebte 1999 jeder Dritte unterhalb der Armutsgrenze. Hier sind drei von vier Einwohnern lateinamerikanischer Abstammung. Die Poster, auf denen für Boxkämpfe und Rap-Battles geworben wird, die Geschäftsschilder, selbst die Werbung in den U-Bahnen der Linien eins, neun und A: fast alles ist auf Spanisch.

Gegen 1.30 Uhr stößt Team 128L auf Höhe der 177. Straße auf den Broadway. Auch die berühmteste Straße der Welt hat hier keine Ähnlichkeit mehr mit der Musical-Meile vom Times Square, 135 Straßenblöcke weiter südlich. Die Häuser sind rußverschmiert, vor den Schnapsläden stapelt sich der Müll. Es riecht anders, irgendwie stickig und abgestanden, obwohl es kühl ist.

Als Westcott, mit Hope-Aufkleber auf der Brust und Klemmbrett unterm Arm, vor der „Jesus Pharmacy“ etwas zu zügig auf einen Passanten zugeht, der im Müll wühlt, weicht dieser zurück. „Was willst du, Mann? Ich hab nichts getan!“ Der Mann, vielleicht Anfang vierzig, ist auffallend dürr. Manche seiner Kleidungsstücke wirken zu groß, andere zu klein. Westcott geht einen Schritt zurück und stellt sich noch einmal richtig vor, höflich, wie er es bei einem Menschen mit Wohnung auch tun würde. Der Mann wirkt noch immer misstrauisch, bleibt nun aber stehen. Er erzählt, dass er die Nacht zuvor auf einem Hausdach geschlafen hat, dass es kalt war und windig. Sein Bein schmerzt, irgendein Unfall, er kann sich nicht erinnern. Beim Arzt war er nicht. Elisabeth Isralowitz fragt den Mann, ob er die Nacht in einer Notunterkunft verbringen möchte. Als er einwilligt, ruft sie einen Mitarbeiter der Obdachlosenbehörde an. Auch das gehört zur Zählung: Wer angibt, obdachlos zu sein, wird auf Wunsch zur nächsten Unterkunft gebracht. Als der Wagen eine Viertelstunde später mit dem Mann wegfährt, strahlt Isralowitz. Als Kind, erzählt sie, habe sie Süßigkeiten an Obdachlose verschenkt.

Kurz nach drei. Nach gerade einmal vier Häuserblöcken legt Team 128L die einzige Pause in dieser Nacht ein. Am Tresen des Tipico Dominicano Restaurante, eines der unzähligen 24-Stunden-Imbisse New Yorks, über drei dampfende Pappbecher Kaffee gebeugt, diskutieren Amigo, Isralowitz und Westcott über den Umgang der Stadt mit Obdachlosen. Der Parkaufseher, ein sanfter Mittzwanziger mit dünnem Bart, sagt, er kenne das Dilemma der Polizisten aus seinem Berufsalltag. Die New Yorker Polizei sei in der Regel respektvoll und höflich, Herumhängen sei nun mal an vielen Orten verboten, dagegen müssten sie vorgehen. Schlimm sei es, wenn die Parkaufsicht selbst aktiv werde, etwa wenn Dinge im Park liegen gelassen werden. Erst fordere sie die Obdachlosen auf, zu gehen, dann lande deren Eigentum – zurückgelassene Tüten, Einkaufswagen oder Koffer – im Müll. Den Obdachlosen wird so nicht nur die Bewegungsfreiheit abgesprochen. Auch über die liberale Kernfreiheit, die Freiheit zum Eigentum, verfügen sie nur eingeschränkt.

Hilfsorganisationen sehen die Zählung als PR-Kampagne des Bürgermeisters

Nach der Kaffeepause geht es abwärts. Das verschachtelte System der U-Bahn-Haltestelle der Linie A, 181. Straße, ist dreckig und laut. Im Minutentakt hallt das Rattern und Quietschen eines irgendwo im Tunnellabyrinth entlangfahrenden Zuges durch die Gänge. Schon nach wenigen Metern bleibt Westcott stehen. Aus dem schulterbreiten Spalt zwischen dem oberen Ende einer Rolltreppe und dem Absperrgitter eines Geschäfts lugt ein Paar schwarzer Turnschuhe hervor. Erst beim zweiten Hinsehen erkennt man den Rest des Körpers. Verdreht liegt er auf einem dünnen Handtuch, das Gesicht zur Erde. „Hallo, möchten Sie an einer Umfrage teilnehmen?“, beginnt Amigo vorschriftsgemäß die Befragung, bevor sie merkt, wie furchtbar das klingt. Vorsichtig geht sie etwas näher an die Rolltreppe heran. „Hallo?“ Nichts. „Komm, lass uns gehen“, drängt Westcott. „Wenn einer obdachlos ist, dann der.“ Aber sie lässt nicht locker: „Haaallo!“ Der Körper bewegt sich, langsam. Er versucht, sich zu verbergen, indem er noch tiefer in den Spalt hineinkriecht. „Glauben Sie, dass diese Person obdachlos ist?“, steht auf dem Fragebogen für den Fall, dass jemand die Antwort verweigert. Nach dem dritten Versuch kreuzt Amigo endlich „Ja“ an.

Wie viele Kreuze am Ende fehlen, weiß keiner genau. Sicher ist: Es sind nicht wenige. Die Freiwilligen zählen nur Menschen, die sich in der Öffentlichkeit aufhalten. Im März, zwischen null und vier Uhr, sind das nicht viele. „Wir wollen den harten Kern der Straßenobdachlosigkeit erfassen“, erklärt Carl Hoyt von der Obdachlosenbehörde. Warum deshalb auch die nicht mitgezählt werden, die im Vorraum einer Bank schlafen oder bei McDonald’s die Zeit totschlagen? „Untersuchungsmethodik.“

Wie auch immer: Das kleine, nicht repräsentative, grob geschätzte Ergebnis von Team 128L ist beängstigend genug: Die drei jungen New Yorker sind sich einig, dass etwa jeder fünfte Passant, mit dem sie in dieser Nacht gesprochen haben, obdachlos war.

Als das Trio gegen halb fünf wieder an der Audubon-Schule ankommt, beginnt es in New York zu schneien, erst ein paar feuchte Flöckchen, dann immer mehr. Tags darauf wird der dritte Schneesturm des Jahres durch die Stadt fegen. Kalte Winde werden die Straßenschluchten hinunterwehen, und die Hunde aus der Upper East Side werden, wenn überhaupt, nur noch im Pelzmantel vor die Tür gelassen. Auf dem T-Shirt, das alle Teilnehmer der Zählung als Dankeschön erhalten, steht noch einmal dick in Pink: „Hope“. Fragt sich bloß, für wen.