: Die lange Reife der fetten Bentheimer
PÖKELN Ein wirklich guter Schinken braucht Zeit. Viel Zeit. Wer wüsste das besser als der Chef des Schinkenmuseums
■ Theoretisch: Um im Laden einen guten Schinken zu erkennen, müsste man Folgendes wissen: Von welchen Schweinen stammt der Schinken und wie wurden sie gehalten? So kommen die meisten Schwarzwälder Schinken nicht etwa aus dem Schwarzwald, sondern aus Tierfabriken in Niedersachsen oder den Niederlanden und werden nur zum Räuchern in den Schwarzwald gebracht. Dann das Pökeln: Lag der Schinken wirklich mehrere Wochen im Salz? Oder erhielt er, um die Herstellung zu beschleunigen, nur eine Salzinjektion?
■ Praktisch: Das Problem jedoch ist, dass das Etikett zu diesen wichtigen Fragen keine Auskunft gibt oder die Verkäufer zu wenig Informationen haben. Was also tun? Zunächst sollte man darauf achten, dass der Schinken einen Fettanteil von rund einem Drittel hat oder zumindest schön marmoriert ist. Sein Äußeres darf nicht zu schwarz sein, das weist darauf hin, dass er lange in der Räucherkammer war. Und der Hersteller so versuchte, zusätzliches Aroma zu erzeugen. Die einfachste Methode, guten Schinken zu erkennen, bleibt aber: Probieren! Gute Metzgereien reichen immer ein Stück über die Ladentheke.
AUS APEN SABINE HERRE
Wer herausfinden will, wie einer der besten Schinken Deutschlands entsteht, der muss nach Apen fahren. Dort im Ammerland, im nordwestlichsten Zipfel Niedersachsens, schon fast an der Nordsee, steht an der Hauptstraße das einzige deutsche Schinkenmuseum. Ein Museum, dessen Räucherei bereits 1748, vor mehr als 260 Jahren, gegründet wurde und seit neun Generationen im Besitz derselben Familie ist. Seit 1993 führt Arnd Müller dieses Museum. Müller, dem man seine Liebe zu Speck und Schinken so gar nicht ansieht, ist gelernter Metzger und 49 Jahre alt. Wer mit ihm über die Schinkenherstellung redet, sollte genug Zeit einplanen. In Apen gleicht kein Schinken dem anderen.
Das hängt in erster Linie mit den Schweinen zusammen, die die Keulen für den Ammerländer Schinken liefern. Es sind keine Turbotiere, deren Leben in der industriemäßig organisierten Massentierhaltung gerade einmal neun Monate währt, sondern langsam aufwachsende Landschweine, die schon mal drei Jahre alt werden dürfen. Vor einigen Jahren hat Arnd Müller die Bunten Bentheimer entdeckt, eine alte Rasse, die gut an ihren schwarzen Flecken zu erkennen ist, weshalb man sie in der Region auch die Schwarzbunten nennt. Die Bunten Bentheimer wären beinahe ausgestorben, weil sie einen Fettanteil haben, der fast dreimal so hoch ist wie der von Turbomastschweinen. Daher waren sie lange Zeit praktisch unverkäuflich. Nach den fetten Wirtschaftswunderjahren wollten die Deutschen nur noch magere Schweine. Gerade der hohe Fettanteil ist es jedoch, der Arnd Müller begeistert. „Schinken ist für mich nicht nur ein rotes, sondern ein rot-weißes Geschmackserlebnis“, sagt er.
Warum gerade in einem Dorf wie Apen ein Schinkenmuseum entstand, erzählt Müller seinen Besuchern in der „Guten Stube“, dem ehemaligen Wohnzimmer der Familie, in der noch die Möbel der Urgroßmutter stehen. Da fällt es nicht schwer, sich hineinzuversetzen in eine Zeit, in der das Ammerland dem dänischen König gehörte und Apen eine Grenzstadt mit Festung und Hafen war. Schinken stellten die Bauern damals nur für den eigenen Gebrauch her, Arnd Müllers Urahn jedoch beschloss, daraus ein Geschäft zu machen. Immer länger dauerten die Reisen der Seefahrer, wofür sie haltbaren Proviant brauchten. Das war die Geburtsstunde des Ammerländer Schinkens.
Das Schinken-Jahr beginnt bei den Müllers im November. Dann werden die ersten von insgesamt rund 60 frischen Keulen gesalzen, wofür man Natursalz aus der Saline Lusinenhall in Göttingen nimmt. Sonst verwendet man in Apen keine Gewürze wie etwa Wacholder oder Piment, ein zweiter wichtiger Unterschied zur industriellen Schinkenproduktion. Das gute Schweineleben ist Würze genug.
Der Minimalismus birgt auch Risiken: Verwendet der Schinkenproduzent zu wenig Salz, hängt er ihn zu kurz in den Rauch, kann es passieren, dass Bakterien den Schinken zerstören und einen großen Teil der Jahresproduktion vernichten. Die Balance zwischen Natur- und Kunstprodukt zu halten, ist nicht einfach.
In einer hohen Kammer mit Muschelkalkwänden und Holzdecken reifen die Schinken dem Verzehr entgegen. Mit der Außenwelt sind sie durch vertikale Schächte verbunden. Dadurch kann in der Nacht die kühle, feuchte Meeresluft eindringen und sich dank thermischer Effekte den ganzen Tag halten. Eine Klimaanlage ist so nicht nötig, nur eine Heizung gibt es, falls die Temperatur im Winter unter zwei Grad fällt. Zu kalt darf es nicht werden, zu warm auch nicht. „Unruhe schadet dem Schinken“, sagt Arnd Müller.
Vor einigen Jahren versuchte die Verwaltung der 11.000 Einwohner zählenden Stadt die Schinkenräucherei aus dem Stadtzentrum hinauszudrängen. Doch Müllers Vater verweigerte den Umzug in das neue Gewerbegebiet, und so ist die traditionelle Reifekammer heute die einzige in der ganzen Region. In weißen Beuteln hängen die Schinken mindestens 14 Monate unter der hölzernen Decke.
Warum ist dieses Reifen so wichtig? Andere Hersteller, etwa im Schwarzwald, bringen ihre Produkte doch schon nach drei Monaten auf den Markt? Arnd Müllers Erklärung ist ziemlich einfach: „Beim Reifen trocknet der Schinken und die Aromen werden konzentriert. Dabei verliert er jedoch auch an Gewicht.“ Und dieser Gewichtsverlust kann schon mal unglaubliche 45 Prozent betragen. Was bedeutet, dass die Hersteller auch 45 Prozent weniger verkaufen können. Das schmälert den Gewinn.
Müllers Schinken sind mal 29, mal 35 Monate alt. Vor einigen Tagen holte der Metzger einen Schinken von der Decke, der 31 Kilo schwer war und sogar 40 Monate lang gereift war. Mehr als drei Jahre.
Dass alles hat seinen Preis. Müller hat folgende Formel aufgestellt: Ein Kilo kostet 7 Euro multipliziert mit der Zahl der Monate, die der Schinken reifte. 100 Gramm können so zwischen 10 und 28 Euro kosten. Bestellen kann man den Apener Schinken im Internet, verkosten kann man ihn auch im Museum.
Bisher verkauft Arnd Müller seine Produkte vor allem an private Kunden. Restaurants, ja selbst Sternerestaurants ist das meist zu teuer. Während sie für japanisches Kobe-Beef oder kanadischen Hummer viel Geld ausgeben, hat es ein scheinbar simpler deutscher Schinken schwer. Deshalb wird der Metzger immer häufiger zum Pädagogen. Schulklassen führt er umsonst durch sein Museum, für Kinder bietet er eine spezielle Führung. Das Motto: „Mit Speck fängt man Mäuse“.