: „Ich kämpfe wie ein Widder“
KRAFT In der Mitte des Lebens wurde bei Helga Rohra Demenz diagnostiziert. Jetzt ist sie Lobbyisten für Betroffene
■ Erster Weg: Helga Rohra wird 1953 als Deutsche in Rumänien geboren. Ärger hat sie dort vor allem wegen ihrer Religiosität.
■ Zweiter Weg: Als Aussiedlerin kommt sie 1972 nach Bayern. Sie lebt zeitweilig in Waldkraiburg und ist für die CSU auch im Stadtrat. Nachdem ihre Ehe scheitert, zieht sie mit ihrem Sohn nach München.
■ Dritter Weg: 2009 erhält sie die Diagnose Demenz. Mit Hilfe eines Schreibassistenten hat sie das biografische Buch verfasst: Helga Rohra, „Aus dem Schatten treten“ – Warum ich mich für unsere Rechte als Demenzbetroffene einsetze“, Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 2011, 133 Seiten, 16,90 Euro
INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB
Um die Kaffeetheke im Erdgeschoss eines Einkaufszentrums in Berlin stehen Sessel und Tische. In dieser Lounge im zugigen Gang wartet Helga Rohra, die nach dem Interview im Buchladen eine Lesung haben wird. Nur eine Frage und eine halbe Antwort lang geht es im Gespräch um geplaudertes Nichts.
sonntaz: Frau Rohra, Sie sind vom Sternzeichen Widder?
Helga Rohra: Ja, ein sehr taffer Widder. Da bin ich sehr froh darüber, dass ich so taff bin. Das hilft mir durch die Demenz.
Wie?
Ich gebe nicht auf. Egal wie beschissen ich mich fühle, morgens stelle ich mich vor den Spiegel und sage: You are simply the best – du bist einfach die Beste. Sie müssen wissen, bevor ich Demenz bekam, war ich Konferenzdolmetscherin. Die Sprachkenntnis ist noch da. Ich habe viel im Medizinischen gedolmetscht. Sie haben ein ganz anderes Verhältnis zur Demenz, wenn Sie verstehen, was im Gehirn passiert.
Was passiert da?
Es baut ab. In schnellerem Tempo als bei Gesunden. Das Fachwort ist Atrophie. Die wird jährlich kontrolliert und mir ist wichtig, dass ich meine Atrophie sehe. Ich will die Aufnahme haben und erklärt bekommen: Schauen Sie mal, diese Farben, das ist die Atrophie, so viel hat sie zugenommen. Und dann vergleiche ich es mit den Ausfällen, die ich in meinem Ausfalltagebuch notiert habe. Wenn Sie das aufschreiben, erkennen Sie so eine Kurve, die geht ein bisschen nach unten, dann ist sie wieder gerade, dann geht sie ein bisschen nach unten, dann wieder gerade.
Auch nach oben?
Nein, die kann nicht nach oben gehen. Man versucht, die Kurve so lange wie möglich gerade zu halten, damit der Verfall aufgehalten wird.
Sie gucken also Ihre Aufnahmen vom Gehirn an wie Wunderwerke, wie Kunstwerke?
Ja, die sind wunderbar. Sie sind bunt, sind grün, sind orange, da ist viel Gelb. Ich gucke sie an und ich erkläre sie auch meinem Sohn und wir sagen dann: Ach, das ist doch nicht so schlimm. Die Statistiken ignorieren wir. Die Statistiken sagen, in sechs Jahren wird man ein Pflegefall.
In welchem Jahr sind Sie?
Im fünften. Aber ich sage Ihnen, ich kämpfe wie ein Widder dagegen an. Jede Demenz spiegelt auch die Persönlichkeit und die Art, wie Sie Ihr Leben geführt haben. Ich war keine, die immer gejammert hat: Ach Gott, nur mir passiert das. So war ich nie.
Sie sind jung krank geworden.
Mit fünfzig plus ist man nicht mehr jung. Nur denkt man bei Demenz halt an Menschen mit 75, 80, 85. Aber die Jüngsten in meiner Selbsthilfegruppe für Frühdemente sind 31,5 Jahre alt. Mit Frontotemporal – so heißt deren Demenz.
Was passiert dabei genau?
Sie wird charakterisiert durch eine rapide Wesens- und Mimikveränderung. Leute mit Frontotemporal haben auch Fressattacken. Die können auf Kinder zugehen, die was essen, ganz lieb, und nehmen es ihnen dann weg. Jede Demenz hat eine Symptomatik mit kognitiven Einschränkungen. Und jede ist anders.
Wie ist Ihre?
Ich habe Levy-Body-Demenz. So heißt die. Typisch dafür sind optische Halluzinationen.
Wie sind die?
Ich sehe Sie jetzt hier sitzen, aber hinter ihnen sehe ich mich auch laufen. Ich laufe nicht nur einmal, ich laufe in verschiedenen Streifen und in verschiedenen Phasen meines Lebens. Mal bin ich das Kind, dann das Baby, das gewickelt wird, dann ist mein Sohn mit mir dabei.
Sie sehen Gegenwart und Vergangenheit gleichzeitig?
So sage ich mir das auch. Es ist eine Bereicherung. Aber für die allermeisten Patienten ist das der pure Schrecken. Es ist auch wirklich sehr belastend, weil man sich nicht mehr konzentrieren kann. Man sieht zu viel.
Die Halluzinationen sind wie ein visueller Tinnitus, schrieben Sie in Ihrem Buch.
Wenn es fortgeschrittener ist, kommt es 24 Stunden rund um die Uhr. Auch wenn Sie schlafen. Sie schlafen ja kaum noch, weil Sie dauernd etwas sehen. Sie sehen so viel, dass Sie es gar nicht mehr speichern können.
Können Sie genauer beschreiben, was Sie im Moment sehen?
Jetzt sehe ich mich so links neben Ihnen, da gehe ich. Und dort, etwas weiter weg von Ihnen, bin ich im Garten.
Sie meinen da drüben neben dem Schuhladen?
Nein, nicht so weit. Den Schuhladen sehe ich nicht. Ich sehe unseren Garten von früher. Mein Gott, da war ich zwei Jahre. Ich schiebe den Puppenwagen. Ich habe ein Kleidchen an, mit Karos in Grün und Weiß und habe so Flaschenlocken. Und da schiebe ich diesen Wagen und schiebe und schiebe. Dass ich Sachen sehe, die ich bewusst gar nicht erlebt habe, das ist das Interessante daran. Daneben stehe ich jetzt mit meinem Sohn bei der Einschulung. Der hat eine Jeans an mit bunten Flecken drauf und eine Riesentüte in der Hand. Ich stehe auf einer Seite und rechts steht mein Mann in einem Trachtenjanker.
Und die Leute, die jetzt am Espressostand vorbeigehen?
Die sehe ich nur, wenn jemand mich aufmerksam macht. Sonst sehe ich nur mich. Ich laufe weiter. Sehen Sie, ich trinke hier mit Ihnen Kaffee und ich sehe mich dort auch laufen.
Ein Bilderfeuerwerk?
Ja, es ist sehr viel. Und dann kommt noch die Desorientierung dazu. Man kommt in die Straße, in der man wohnt, und erkennt nichts mehr.
Halluzinationen und Desorientierung – eine verrückte Kombination.
Wenn Betroffene sich sprachlich nicht so gut ausdrücken können wie ich und nur sagen: Ich bin da und gleichzeitig dort – und wenn dann noch die Angehörigen dem Arzt diese Phänomene erklären – ist klar, der Betroffene verschwindet.
Er verschwindet aus der Wahrnehmung, meinen Sie?
Ja. Ich habe keine Angehörigen. Mein Sohn ist ein junger Autist. Er hilft mir schon, aber mit Arztbesuchen befasst er sich nicht. Er hat Asperger, eine milde Form des Autismus. Er kann soziale Situationen nicht gut aushalten. Aber was Napoleon wann vor seiner Armee gesagt hat, das weiß er ganz genau. Und Fahrpläne kann er auswendig. Und ganze Filmdialoge. Ich habe das immer bewundert. Ich kann mir nichts mehr merken und er merkt sich alles.
Sie sind jetzt 58 Jahre alt und haben Demenz. Das ist doch eine brutale Diagnose.
Zuerst attestierte man mir einen Burn-out. Der Neurologe hat die Symptome nicht erkannt und mich monatelang spazieren geschickt.
Welche Symptome?
Worte verdrehen, sich nicht mehr konzentrieren können, vergessen, wie man einen Computer bedient oder ein Butterbrot schmiert – der Arzt dachte, es wäre Erschöpfung. Ich habe versucht, ihm zu glauben. Aber es wurde immer schlimmer mit den Halluzinationen, die auch noch dazukamen. Ich dachte, ich habe einen Gehirntumor. Der Arzt hat mich nicht ernst genommen.
Hatten Sie auch Depressionen?
Man wird depressiv, weil man nicht weiß, was man hat. Ich dachte, ich sterbe morgen und wer kümmert sich dann um meinen Sohn. Dazu konnte ich keine Aufträge mehr annehmen, kein Geld verdienen. Gut, ich hatte Reserven. Aber die hatte ich doch fürs Alter und für die Ausbildung meines Sohnes. Und ich war alleine. Wem sollte ich erzählen, was mir passiert. Da bin ich in die Klinik. Ich war so was von zornig. Ich habe darauf bestanden, dass die mich drannehmen. Ich will es jetzt wissen, habe ich gesagt, ich bleibe hier sitzen, bis Sie mich drannehmen, ich gehe nicht mehr weg, habe ich gesagt.
Sie konnten kein Butterbrot mehr schmieren, können Sie es wieder?
Ich kann nicht alles wie früher. Aber durch mein Training fühle ich mich gestärkter.
Was ist das für ein Training?
Mein tägliches Programm: Turnen, Bewegung, mentales Training, Zeitung lesen, zusammenfassen, was ich gelesen habe, Meditation und die Gebete.
Sie sind religiös.
Ich suche im Glauben Kraft. Wir international Betroffene nennen uns auch Brothers and Sisters – Brüder und Schwestern. Wenn wir uns schreiben heißt es: My dear sister Helga. Am Anfang habe ich geweint wegen dieser Anteilnahme. Ich schreibe jetzt auch: My dear brother Mark – oder wie die alle heißen. Wir stärken uns. Wir geben uns viel, wir müssen ja auch jetzt viel geben. Uns läuft die Zeit davon.
Sind Routinen, Wiederholungen so was wie Orientierungspfade, an denen Sie sich entlanghangeln?
Ich mache immer dasselbe. Die Butter hat im Kühlschrank stets denselben Platz. Auch mein Sohn stellt sie da hin. Sie ist in der mittleren Etage rechts. Mit zugemachten Augen könnte ich die rausholen, und meine Lieblingsmarmelade, Erdbeer, ist auf der obersten Etage links.
Was passiert, wenn jemand das System durcheinanderbringt?
Dann bin ich aufgeschmissen. Genauso ist es im Geschäft. Ich gehe immer in dasselbe. Wir suchen im Prospekt aus, was wir brauchen, und mein Sohn klebt es mir so auf den Zettel, wie es im Geschäft angeordnet ist. Dann kann ich mit diesem Blatt einkaufen gehen. Einige gucken komisch, fragen sich, warum hakt die das ab, die ist ja bescheuert. Heute macht es mir nichts aus, aber am Anfang hat es mir was ausgemacht.
Weil Sie früher etwas darstellten in der Gesellschaft und heute nicht mehr?
So ist es. Man muss lernen, mit dem immer kleineren Radius zu leben und sich trotzdem zu mögen. Mit der Diagnose wird man nicht kleiner. Aber meine Fähigkeiten gehen weg, mein ganzes Wissen. Erdkunde, Geschichte, Biologie. Ich kann mich mit Ihnen über gar nichts mehr unterhalten.
Sind Sie sicher?
Mein Allgemeinwissen, ist wie mit einem Schwamm weggewischt. Es gab zwei Weltkriege das weiß ich noch, aber was da genau war …
Viele wissen nicht, was in den zwei Weltkriegen genau passierte.
Aber ich habe sehr viel gewusst. Mich hat alles interessiert. Ich war ein wandelndes Lexikon.
Und jetzt?
Jetzt habe ich Demenz .
Für wen ist erkennbar, dass Sie eingeschränkt sind?
Für mich, für Freunde, die mich kennen. Ich werde etwas gefragt und kann mich nicht erinnern. Dann ist da so ein wehmütiges Lächeln auf dem Gesicht der anderen.
Wie interpretieren Sie das?
Viele, auch viele Betroffene, sagen, es ist ein Schicksalsschlag. Andere sagen: So ein Elend, es ist eine Strafe Gottes. Ich sage: Nein, es ist eine Mission Gottes.
Sie haben es für sich zu einer Mission gemacht, indem sie Lobbyistin für die Demenzbetroffenen wurden.
Richtig. Ich bedanke mich jeden Abend, dass ich das kann. Dass ich reden kann. Für andere. Das ist eine Ressource. Man muss unsere Ressourcen sehen. Dazu habe ich meinen Humor behalten – das ist auch eine Ressource. Außerdem bin ich sanft geworden. Ich war sehr resolut. Ich war sowas von arrogant, sage ich Ihnen. Heute bin ich zahm wie ein Lämmchen.
Kann es sein, dass Sie noch ganz andere Ressourcen entwickelten? Etwa eine intuitive Menschenkenntnis? So können Sie sich an Menschen orientieren, wenn Sie die Orientierung verloren haben? – Der Eindruck entsteht zumindest, wenn man ihr Buch liest.
Ich kann erkennen, wer offen meiner Situation gegenüber ist. Diese Leute spreche ich gezielt an. Und ich schäme mich nicht. Neulich fuhr ich von München nach Bremen, da muss ich doch zwischendurch auf die Toilette. Dann frage ich, meistens frage ich Frauen, wissen Sie, wo die Toilette ist. Ja, da vorne. Würde es Ihnen was ausmachen, wenn Sie auch die Toilette aufsuchen würden? Dann sagen sie: Ja, eigentlich könnte ich auch. Dann sage ich: Ach das freut mich, dann werde ich mich Ihnen anschließen. Die Leute sind feinfühlig, wenn man es so nett sagt. So integriere ich mich selbst.
Sie wurden – auch so ein Akt von Selbstintegration – als erste Demenzbetroffene in den Vorstand der Alzheimer Gesellschaft in München gewählt.
■ Krankheit: Laut Bundesgesundheitsministerium leben in Deutschland etwa 1,2 Millionen Menschen mit einer Demenz. Bis 2040 werden 2 Millionen prognostiziert. Häufigste Form der Demenz ist die Alzheimer-Krankheit, deren Ursachen bisher nicht geklärt sind. Bis zu 70 Prozent der Dementen in der EU sind Alzheimer-PatientInnen. Ihr folgt die Multiinfarkt-Demenz mit rund 30 Prozent, die nach mehreren Schlaganfällen auftreten kann. Daneben gibt es seltene Demenzen wie Frontotemporal oder Lewy-Body, je nachdem welche Gehirnregion betroffen ist.
■ Unterstützung: Demenz wird vor allem als Krankheit bei alten Menschen wahrgenommen. Pflege und Pflegeversicherung stehen deshalb im Vordergrund. Nach der UN-Behindertenkonvention, die von Deutschland ratifiziert ist, müsste Demenz aber auch als Behinderung anerkannt werden. Trotzdem erhalten Demente bisher in der Regel keinen Behindertenstatus. Damit stehen ihnen auch keine Leistungen zur gesellschaftlichen Integration wie persönliche Assistenz zu. Mehr unter: www.demenz-support.de www.deutsche-alzheimer.de
Es wurde sogar die Satzung der Alzheimer Gesellschaft geändert wegen mir. Ein Mensch mit Demenz kann jetzt aufgenommen werden. In dem Moment, in dem mein Arzt zusammen mit mir feststellt, dass meine Geschäftsfähigkeit nachlässt, werde ich freiwillig zurücktreten. Das ist so vereinbart.
Wofür sind Sie in der Gesellschaft zuständig?
Ich vertrete die Interessen der Frühbetroffenen. Ich gucke, wie die Fördermittel eingesetzt werden, mache Vorschläge. Im Mai machen wir eine Eseltherapie in Frankreich. Die Dementen sollen die Esel pflegen, reiten, streicheln. Das machen wir zusammen mit einer Alzheimergruppe in Avignon. Das ist deren Konzept und das wollen wir kennenlernen. Wir alle lieben Tiere.
Weil Tiere unvoreingenommen sind?
Man kann mit Ihnen sprechen. Sie verstehen einen. Ich habe selbst zwei Katzen.
Öffentlichkeitsarbeit gehört auch zu Ihren Aufgaben.
Ich bin die Rampensau der Betroffenen, sagt man von mir.
Sie fordern öffentlich die Würde ein für Demenzbetroffene.
Ich will, dass man uns auf Augenhöhe begegnet. Man soll mit uns sprechen, nicht über uns. Man soll uns einbeziehen. Natürlich muss man immer auch das Level der Demenz sehen, aber wir sind die Experten. Wir verkörpern das neue Bewusstsein von Demenz. Meine Forderungen an Politik und Gesellschaft habe ich hier aufgeschrieben.
Das kann man gar nicht lesen.
Das kann man perfekt lesen. Ich schreibe so was von schön. Ich fordere: nicht Fokus auf Defizit, sondern auf existierende Ressourcen. Nicht parentalisieren, sondern eine Rolle geben. Keine Hospitalisierung, sondern Förderung und Aktivierung. So schreibe ich mir das auf. Das sind meine Notizen für Vorträge.
Reagieren Nichtbetroffene von oben herab aus Angst?
Zum Teil. Aber auch aus Unkenntnis. Sie können sich nicht vorstellen, dass Demente noch Forderungen haben. Wenn Betroffene aber jünger sind, aus dem Berufsleben gerissen werden und Kinder haben, und einige haben auch kleine Kinder, dann haben sie noch andere Forderungen als jemand, der 85 ist.
Gibt es Erklärungen, warum immer mehr Junge an Demenz erkranken?
Nein. Es wird gerätselt. Es könnte was mit Multitasking, verkehrter Ernährung, Umwelteinflüssen zu tun haben, aber man weiß es nicht. Nur es ist beängstigend, dass sie so jung sind.
Sie sind auch mitten aus einem erfolgreichen Berufsleben gerissen worden und sind heute Sozialhilfeempfängerin. Wie gehen Sie damit um?
Ich stehe mittlerweile darüber. Wenn ich bei einem Vortrag 200 Euro kriege, dann wird das von den 384 Euro Grundsicherung abgezogen. Am Ende habe ich nichts verdient. Es ist nur für meine Seele. Das sind die Regeln in unserem Staat. Ich soll mich ja nicht bereichern auf Kosten des Steuerzahlers. Bereichern – ich bitte Sie. Ich habe noch nicht mal mehr eine Sterbeversicherung.
Sie mussten alle Reserven verbrauchen, bevor Sie Anspruch auf Unterstützung hatten.
Ich bin arm wie eine Kirchenmaus. Hier meine Uhr – ein Werbegeschenk. Mein Jackett – aus dem Fundus des MDR. Hinten ist eine Nummer drin. Nach der weiß man, wer es getragen hat. Den Leuten im Fernsehen hat nicht gepasst, was ich anhatte. Ich durfte die Jacke behalten. Das hätte ich früher nie gemacht. Früher hätte ich nur Designersachen angezogen. Bei mir war egal, ob ein Jäckchen vierhundert oder hundert Euro kostete.
Sie verdienten gut.
Für eine Stunde unter dreihundert Euro habe ich als Dolmetscherin den Mund nicht aufgemacht. An Freitagen habe ich meinen Sohn gefragt: Machen wir Kairo oder Jerusalem? Ach was, machen wir Rom. Jetzt kann ich mir nicht mal ein Ticket nach Berlin leisten. Das ist ein Weg, sage ich Ihnen. Aber es ist auch ein Prozess. Da liegt die wahre Stärke, sage ich mir. Mich kann nichts mehr umwerfen.
Sie haben die Kontrolle auf extreme Weise abgegeben. Nicht nur kognitiv, auch ökonomisch.
Aber ich habe meine Seele und meine Stärke gewonnen. Es gibt so ein Gedicht: They took away my rights, but they won’t take away my soul, possessing that I still possess the whole.
Meine Rechte sind mir genommen / doch meine Seele hab ich noch / so lange ich die habe. / schau ich als Ganzes hoch.
■ Waltraud Schwab, sonntaz-Redakteurin, hat auch die freie Übersetzung des Gedichtes gemacht