: Musik für die Augen
Allein wer bereit ist, dem Exzess zu folgen, kann mit Genuss belohnt werden: Das Arsenal zeigt die rauschhafte und delirierende Filmkunst des italienischen Schauspielers und Regisseurs Carmelo Bene
VON JÖRG BECKER
Als Darsteller und Regisseur innerhalb der experimentellen Theaterszene Italiens kam Carmelo Bene (1937–2002) mit Neuauslegungen klassischer Figuren zu früher Bekanntheit. Den Ruf des Provokateurs bescherte ihm ein Zwischenfall während einer Inszenierung von „Christ 63“ (1963), als ein argentinischer Schauspieler in die vorderste Reihe des Publikums urinierte, wo der argentinische Botschafter saß. Dabei lag der Skandal in seiner Inszenierung selbst, beschwerte sich Bene später. Bene war Exponent des Artaud’schen „Theaters der Grausamkeit“ und bald ein Mythos der französischen Intellektuellen. Für die Pariser Cahiers du cinéma war sein schmales filmisches Werk „eine der radikalsten Entwicklungslinien des modernen Kinos“.
Nachdem ihn Pier Paolo Pasolinis für die Rolle des Kreon in „Edipo Re“ (1967) engagiert hatte, konzentrierte sich Bene nun selbst ganz auf das Kino, drehte – beginnend mit seinem eigenen autobiografischen Romanstoff „Nostra Signora dei Turchi“ (1968) – fünf Spielfilme und drei Kurzfilme und wandte sich nach 1974 völlig vom Kino ab. Was er sein „Kino in Klammern“ nannte, ist heute das Zeugnis einer rauschhaften, delirierenden Filmkunst. Ein Avantgardismus von Video- und Mode-Shooting-Ästhetik ist darin konserviert – im expressivem Gestus, in radikal variierenden Schnittrhythmen, in rohen, leuchtenden Farbwerten und provokanten Reizen. Ähnlich wie „Salome“ (1972) ist Carmelo Benes Filmversion des „Hamlet“ (1973), ein Farbfurioso aus leuchtenden Primärfarben im weißen Ambiente eines Fotostudio-Sets, das an Richard Avedons Mode- oder Charles Wilps Werbefotografien jener Jahre erinnert.
Zwischen 1968 und 1973 mag Carmelo Bene überzeugt gewesen sein, dass er im Film stärker theatralisieren könne als auf der Bühne – mit Flüstern und Schreien, Sabbern und Murmeln in einem Ambiente, das nach musikalischen Gesetzen aufgenommen ist. „Musik rettet uns vor den Ideen“, verkündete er 1969 in Cannes. „Verdi hat ein dramatische Kunst für die Ohren geschaffen, nicht für die Augen. Ich mache das Gegenteil. Er machte Handlungen für die Ohren, ich mache Musik für die Augen.“
Mit „Capricci“ drehte Bene 1969 eine Art Anti-Godard-Film. Die Premiere in Cannes war ein überwältigender Erfolg. Neben Bene, der einen Maler, einen Schriftsteller und eine Prostituierte zusammenbringt, erinnert Anne Wiazemsky, bereits Darstellerin bei Bresson, Pasolini und Godard, in einer Autodemolierungsszene an Godards „Weekend“ (1967). In der Car-Crash-Sequenz positionieren sich die „toten“ Körper fortwährend von neuem, um noch eigentlicher tot zu erscheinen. Der Gegensatz zu dem damals film- und politaktivistisch tätigen Godard konnte nicht größer sein. Erst nachträglich gerät die Dialektik dieser beiden Radikalen in den Blick. „Ich will als Europäer mit Europa abrechnen“, sagte Bene. „Deswegen will ich mich nicht beschäftigen mit Kleidern, mit dem Autoverkehr, mit all dem, was man im letzten Godard findet.“
Für Gilles Deleuze, der seinen Essay über Carmelo Bene „Ein Manifest weniger“ in Anlehnung an Benes Pop-Art-Hamlet-Film „Un Amleto di meno“ („Ein Hamlet weniger“, 1973) betitelte, waren es „Subtraktionen“ des Dramas, die Bene vollzog, und keine Interpretationen mehr. Bene amputierte Bestandteile des Originalstücks, er reduzierte oder besetzte Rollen doppelt, nahm Umstellungen vor und tilgte die dramatischen Höhepunkte. Psychologen aus der Fachrichtung der „systemischen Theorie“ werden mit diesem Vorgehen etwas anfangen können, das demonstriert, wie durch Umgruppierungen oder Verluste Aufgaben neu geordnet und Funktionen neu verteilt werden – sei es in der modernen patchwork family oder im klassischen Familiendrama.
Das Symbolische tötet das Leben. Besser, wenn Blutstropfen an verstreute Rosenblätter erinnern, als dass man beim Anblick der Blüten glaubt, eine tödliche Spur zu entdecken, heißt es sinngemäß in Benes auf Oscar Wilde basierendem Film „Salome“ (1972). Zwischen Auszügen aus Richard Strauss' Oper, Schubert, Prokofjew etc. und zeitgenössischem Pop hat der Soundtrack die Montage und Kamerabewegungen bestimmt. Models als Darstellerinnen, heute 60er-Jahre-Ikonen, sind die farbige Donyale Luna als nackte, exotisch langschädlige Salome, die Herodes (Carmelo Bene) grausam gedehnt mit grazilen Fingerspitzen Hautfetzen vom Gesicht zieht, und die Gazellengestalt Veruschkas, des Fotomodels aus Antonionis „Blow up“, behängt mit Juwelen, die Statue einer archaischen Gottheit. In seinem psychedelischen Hauptwerk hat Bene ein rückleuchtendes Scotch-Klebeband eingesetzt, das die Kostüme der Personen schmückt. Das Drehen wirkt wie eine Performance, von einer dynamischen Kamera verfolgt in Einstellungen, die Bene am Schneidetisch, immer mit einer Musik im Kopf, in kleinste Einheiten zerlegt, bei „Salome“ in ca. 4.500 Shots.
Benes Schauspieler evozieren, statt zu agieren. Ähnlich wie in „Un Amleto di meno“ sind in „Salome“ die meisten dramatischen Handlungselemente aus der Tragödie entzogen. Bene als Herodes spricht seinen Text im Liegen, während die Kamera in permanenter Bewegung auf ihm bleibt. Die Unfähigkeit, eine Handlung zu vollenden, kennzeichnet die Figuren in Benes Inszenierungen, die in der Mitte der Performance, gebannt im Moment der Selbstbetrachtung, eine kritische Haltung zu sich selbst ausdrücken. Die einfachsten Handlungen sind untersagt, selbst das Essen wird nicht zum Zweck der Nahrungsaufnahme ‚einverleibt‘. Mitunter sind solche Erprobungen des Ekels („Nostra Signora dei Turchi“, 1968) Prüfungen des Zuschauers. Allein wer bereit ist, dem Exzess zu folgen, kann mit Genuss belohnt werden. Die Körper in Benes Filminszenierungen kommunizieren nichts. „Bilder und Farben können dem Zuschauer suggerieren, dass er verstehen kann. Eigentlich aber ist ihm das Verstehen verboten. Kommunikation ist Korruption.“
Bis 22. 4., Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, Termine siehe Programm