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Archiv-Artikel

Der erweiterte Parlamentarismus

Erneuerung des Politischen aus dem Geiste der Kunst und der Wissenschaft: Die Multimedia-Ausstellung „Making Things Public“ im ZKM Karlsruhe

VON GABRIELE HOFFMANN

Das Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie war schon immer das etwas andere Kunstinstitut. Ausstellungen sind hier nur der publikumswirksamste Teil im Dialog mit der Öffentlichkeit, neben Vorträgen und Theoriediskussionen. Eine Multimediaschau mit dem Titel „Making Things Public. Atmosphären der Demokratie“ ist jetzt das Ergebnis eines Brainstormings von über hundert Künstlern, Soziologen, Philosophen und Historikern, die herausgefunden haben, dass es an der Zeit ist, den Begriff der Politik neu zu fassen.

Peter Weibel wünscht sich die „Erneuerung des Politischen aus dem Geist der Kunst und der Wissenschaft“, sein Kokurator, der Pariser Wissenschaftssoziologe Bruno Latour, überschreibt seinen Essay zur Ausstellung „Von der Realpolitik zur Dingpolitik“. Was an weiteren Politikstürmereien in dreijähriger Vorbereitungszeit erdacht wurde, ist demnächst in einem Tausendseitenkatalog zu lesen.

Gleich am Eingang wird der Begriff Politik kommunikationstechnisch ausgedeutet und sphärisch erweitert: Durch Umhängen einer „Besucherkarte“ wird das eigene Verhalten in der Ausstellung allen anderen Besuchern über ein hochkomplexes mediales System aus Rückkopplungsschleifen mitgeteilt. Dem von Michel Jaffrennou und Therry Coduys konzipierte „Phantom Public“ kann man nicht entrinnen. Es ist das Generalthema der in 13 Abteilungen gegliederten Ausstellung, die unter immer anderen Aspekten Zweifel aufkommen lassen will, ob die westliche parlamentarische Demokratie nun wirklich der politischen Weisheit letzter Schluss ist. Deutsche Ostermarschierer und Pariser Demonstranten gegen Sozialabbau schaffen sich ihre eigene Öffentlichkeit, weil sie meinen, dass ihre Angelegenheiten in einer mit sich selbst beschäftigten Politik nicht mehr zur Sprache kommen.

Unter dem Slogan „Bitte keine Politik“ stellt die Ausstellung zeitlich und räumlich entfernte Arten von Versammlung vor. Gegenstände der Maori Neuseelands und der indigenen Bevölkerung Nordwestkanadas verweisen auf ein Eigentumsrecht, das neben materiellen auch geistige Güter umfasst und eine entsprechende Streit- und Versammlungskultur hervorgebracht hat. Die Frage, ob dieser Versammlungstyp in Europa eine Chance hätte, unterschlägt leider, dass solche „Atmosphären der Demokratie“ auch bei uns durchaus ab den 60er-Jahren als politische und kulturelle Netzwerköffentlichkeiten die Defizite der offiziellen demokratischen Regelwerke verringern helfen. An Bürgerinitiativen erinnern wir uns doch noch?

Ausgiebig beschäftigt man sich in Karlsruhe mit der Vorstellung eines „Politischen Körpers“, wie ihn Thomas Hobbes in seinem „Leviathan“ entwickelte. Das Frontispiz der Erstausgabe von 1651 mit der aus einzelnen Menschen zusammengesetzten Figur des Souveräns hat zahlreiche Künstler zu Nachahmungen gereizt. Selbst George W. Bush und Bin Laden (Le Monde, 11. September 2002) geistern als Kompositfigur durch die Ausstellung.

Im Kapitel „Von den Objekten zu den Dingen“ geht es um die Herkunft des Wortes „Ding“ aus dem germanischen „Thing“ mit der Bedeutung Versammlung. Ein Konvolut von dreißig Digitaldrucken führt zu vorgeschichtlichen „Orten des Rechts“, an denen im Schutz von Monolithen und alten Bäumen Streitfragen verhandelt wurden. Ana Miljackis 5-Kanal-Videoinstallation „Classes Masses Crouds – Representing the Collective Body and the Myth of Direct Knowledge“ (2005) katapultiert den Besucher in die jüngere Geschichte auf dem Balkan. Peter Sloterdijks amüsante Antwort „auf das gravierende globale Demokratiedefizit“ ist „Instant Democracy: The Pneumatik Parliament“. Das transparente, aufblasbare und für den Abwurf vom Flugzeug bestimmte Parlamentsgebäude zitiert mit seiner Kuppelform eine uralte architektonische Würdeformel. Die mit dem kostbaren Gut Beschenkten dürften ihre Wünsche nach sauberem Wasser und dem Wiederaufbau ihrer zerstörten Städte vielleicht etwas zurückstellen.

Unter dem Stichwort „Die Parlamente der Natur“ werden Ökosysteme als Modelle für eine neue „Dingpolitik“ präsentiert. „When Wolves Settle: A Panorama“ (2005) versetzt den Besucher in die Lage, sich in einer von Weidewirtschaft und Tourismus lebenden Gebirgsregion in die Debatte über Nutzen und Nachteil der Ausbreitung von Wölfen einzumischen. Die rigorose Entgrenzung des Begriffs „Parlament“ aus dem offiziellen politischen Sprachgebrauch lässt uns selbst Supermärkte, Finanzmärkte und Computernetzwerke unter dem Aspekt der politisch relevanten Versammlung wahrnehmen. Wer bereit ist, sich der Komplexität der Karlsruher „Versammlung der Versammlungen“ zu stellen, hat am Ende viel Stoff zum Weiterdenken, aber auch zum Widerspruch.

Bis 7. August, Katalog erscheint im Juli (ZKM/MIT Press Cambridge) 45 $