: Die Poesie aus dem Ghetto
ÜBERLEBEN Rose Scooler wurde 1944 nach Theresienstadt deportiert. Sie schrieb dort Gedichte – wie viele andere
VON ROSE SCOOLER
Nenne mir, Muse, den Ort, wo im Ghetto mein Lager ich aufschlug,Speisesaal wie auch Salon, Schlafraum und Bibliothek,Vorratskammer für Speise und Trank – und dies alles in einemAuf zwei Meter Geviert – siehe, es nennt sich mein Bett.
Herrlich ist es gefüget aus ehemals wirklichem Holze,zweietagig nicht nur, sondern auch doppelgereiht.Hart sind und vorsintflutlich die gräulichen alten MatratzenUnd in den sperrigen Fugen haust munter ein bissig Getier.
Über mir wohnet zurzeit eine würdige ältere Dame,Blind fast und taub. Das ist schlimm; doch weit schlimmer ist, finde ich, diesDass ihre Nachbarschaft schwer ohne Gasmaske ist zu ertragen,Dass aber leider uns fehlt hier dies überaus wicht’ge Gerät.
Neben mir pflegt eine jüngere Lady schnarchend zu schlummernLebhaft ist oftmals ihr Träumen, dass davon erbebet ihr BettManches Mal lieget auf tagüber krank sie daheim in den FedernNeben ihr sitzet der Freund, der sie liebend und sorgsam betreut.
Unterwärts – doch nur zur Hälfte – stehen staubige Koffer und bergenKöstlicher Güter Besitz, als wie Kleidung und Wäsche und Schuh,Lebensmittel und Hausrat und sonstige löbliche Dinge,Denen man hier in dem Städtchen nur schwer zu entraten vermag.
Schau nur die Policzkas an zu den Häupten und Füßen des Bettes,Zierlich geordnet stehn dort all die Töpfe und Töpfchen gereihtAuch die Aromaphiolen und edelsten aller Gewürze,Selleriesalz und was sonst Dir noch bot der treffliche Bazar.
So wie die Policzkas dort von den reinlichen Tüchern verhüllt sind,Also auch decket die Polster ein prächtiges seidenes TuchLila ist es, in buntesten Farben gestickt und schmückteEinstmals als festlich Gewand eine füllige Morgenlandsfrau
Gastlich ladet zum Sitzen die hölzerne Bank vor dem Bette,Aber sie täuschet auch Waschtisch und Schreibsekretär mir hier vor,Fürder die Bar für das Mixen der alkoholfreien Getränke,Wie auch die Tafel zum Speisen des lecker bereiteten Mahls
O du mein Bett, du mein ein und mein alles im trostlosen GhettoBist doch das Einzige, du, das mir wirklich allein zugehört.Wundervoll ist es, zu ruhen in dir und zu träumen; nur leiderJaget der Wecker mich stets allzu früh in den Glimmer hinaus. Oder: aus dem lauschigen Pfühl.
Wir danken Sibyl Ruth (Birmingham) und Ann Lewis (Wilmslow), der Großnichte und der Nichte von Rose Scooler, für die goßzügige Abdruckgenehmigung.
Sibyl Ruth bereitet eine englische Ausgabe der Gedichte vor
VON ANNA HÁJKOVÁ
Tausende der Insassen des Ghettos Theresienstadt dichteten, vor allem die älteren deutschen Juden. Viele Gedichte sind erhalten, doch die meisten wurden nie gelesen oder gar interpretiert. Wie das Gedicht von Rose Scooler „Ode an mein Bett in Theresienstadt“.
Rose Scooler, geborene Guttfeld, kam 1882 im ostpreußischen Ortelsburg – heute Szczytno – auf die Welt. Sie wuchs in einer liberalen, gutbürgerlichen jüdischen Familie in Berlin auf und heiratete den amerikanischstämmigen Kaufmann Sidney Scooler. Im sächsischen Porschendorf betrieb Sidney später eine gut gehende Kartonagenfabrik, die ihre zwei Söhne, Werner und Walter, nach seinem Tod 1928 weiterführten. 1938 arisierten die Nazis das Unternehmen, sechs Jahre später wurde Rose deportiert: nach Theresienstadt im heutigen Tschechien. Hier musste sie in der Werkstatt für die Wehrmacht Glimmer spalten – und schrieb einige Dutzend Gedichte. Nach der Befreiung kam sie in ein Camp der Alliierten im bayerischen Deggendorf. Nach zwei Jahren wanderte sie zu ihrem Sohn in die USA aus, wo sie 1985 im Alter von 102 in St. Paul, Minnesota, starb.
Mehr als 140.000 Menschen wurden nach Theresienstadt gebracht. Sie waren in vielerlei Hinsicht repräsentativ für das mittel- und westeuropäische Bürgertum. Aus Deutschland schickten die Nazis vor allem die Älteren. Veteranen mit Kriegsauszeichnungen, liberale, großstädtische Menschen der Mittel- und Oberschicht. Die Mehrheit der Verschleppten starb an Durchfall und Erschöpfung oder wurde gezielt ins Vernichtungslager Treblinka deportiert.
Viele Häftlinge in Theresienstadt dichteten. Es gab sogar Poesiewettbewerbe. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger wies später darauf hin, dass die Poesie mit ihrem Rhythmus eine Form bot, die erschreckenden Erlebnisse im KZ zu ertragen. Das Dichten war zudem, wie das Tagebuchschreiben, im Bürgertum ohnehin weit verbreitet. Sie schrieben Gedichte über das Ghetto, einander zum Geburtstag oder die abwesenden Lieben.
Die „Ode an mein Bett“ beschreibt das Elend des Lagers: Enge, anstrengende Nachbarn, Parasiten, Gestank, Zwangsarbeit. Der Kontrast von altmodischem Duktus und drastischem Inhalt erzielt einen klugen, komischen Effekt. In der Eröffnungszeile wird die „Odyssee“ zitiert: „Nenne mir, Muse, den Mann …“ So bezieht sich das Gedicht auf den Ursprung des abendländischen literarischen Kanons. Die „Odyssee“ ist eine Erzählung über Verbannung, Widrigkeiten und den langen Weg nach Hause. In vielem ist die Ode repräsentativ für die Selbstwahrnehmung deutscher Juden und ihre kulturellen Muster: der Bezug zur klassischen Kultur, die man „besitzt“ und auch als deportierter Jude nicht verlieren kann, sowie Humor und die Fähigkeit, sich anzupassen – selbst an grauenvolle Umstände. Dafür steht auch die „policzka“, Tschechisch für Wandregal, im Ghetto eine der wenigen Möglichkeiten, eigene Sachen zu verstauen.
Aus Theresienstadt werden immer die gleichen Gedichte rezipiert, was den Blick auf die einfachen Leute unter den Häftlingen verstellt. Aber unterschiedlich, wie die Gedichte sind, waren auch die Menschen in Theresienstadt.
■ Anna Hájková, 33, ist Historikerin an der Universität von Toronto in Kanada und forscht zum Ghetto Theresienstadt. Bei ihren Recherchen machte sie das Gedicht von Rose Scooler ausfindig