: Keiner mag das Kapital
Franz Müntefering (SPD) hat den Kapitalismus gegeißelt. Darf der das? Ist das nicht zu gewagt? Nein. Denn Münteferings Position ist nicht abseitig – sondern eine gute alte deutsche Tradition
VON RALPH BOLLMANN
Man könnte fast glauben, Franz Müntefering habe einen Tabubruch begangen. Fast eine Woche nachdem der SPD-Chef das „kurzatmige Profithandeln“ des Kapitalismus gegeißelt hat, erhitzt seine Systemkritik noch immer die Gemüter. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle will seinen Kollegen im Bundestag zur Rede stellen, als habe sich Müntefering eines Gesetzesverstoßes schuldig gemacht, und Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt bezeichnet die Position des obersten Sozialdemokraten schlicht als „weltfremd“.
Damit ist Müntefering zweifellos ein großer PR-Coup gelungen. Denn ganz so originell, wie das publizistische Echo glauben macht, waren seine Einlassungen keineswegs. Liest man die Zitate seiner Kritiker ganz genau, dann wird schnell deutlich: Die Zahl derer, die „den Kapitalismus“ bedingungslos in Schutz nehmen, ist überaus bescheiden. Sie umfasst bestenfalls den Personenkreis, der zu solchen Stellungnahmen berufsmäßig verpflichtet ist.
Für den übergroßen Rest der Bevölkerung gilt, was hierzulande schon immer galt: Der Kapitalismus zählt seit eh und je zu den liebsten Feindbildern der Deutschen. Nur deshalb konnte es in den vergangenen Jahren einem recht übersichtlichen Kreis von Wirtschaftsexperten und Publizisten gelingen, sich mit radikalliberalen Reformvorschlägen als Tabubrecher in Szene zu setzen. Müntefering tut jetzt gerade so, als stünden diese paar Personen schon für das große Ganze.
Dabei belegen alle Umfragen: In der Abscheu vor dem „Kapitalismus“ sind die Deutschen in Ost und West seit je vereint. Höchst populär dagegen war in der alten Bundesrepublik stets die Formel von der „sozialen Marktwirtschaft“. Diese Wertschätzung galt keineswegs der freien Entfesselung der Wirtschaftskräfte, sondern im Gegenteil ihrer Hegung und Zähmung im System des „rheinischen Kapitalismus“. Man grenzte sich damit zwar auch vom Kommunismus östlicher Prägung ab; stolz war man aber nicht auf den Wettbewerb, sondern auf „Wohlstand für alle“.
Man liest gerade bei konservativen Autoren immer wieder, die deutsche Abneigung gegen den Kapitalismus sei ein Produkt der linken Siebzigerjahre. Das stimmt nicht. Sie umfasste, bevor sich die FDP vor ein paar Jahren zum Radikalliberalismus bekehrte, eigentlich alle politischen Lager. Um diese These zu belegen, ist nicht mal der Verweis auf jüngste Debatten über den nationalsozialistischen „Volksstaat“ und dessen Tiraden gegen den „jüdischen“ Kapitalismus nötig, auch nicht der auf den Philosophen Peter Sloterdijk, der befand, wegen der „Depressionsreste aus den Zeiten der Volksgemeinschaft“ werde Deutschland „immer eine dunkle Farbe ins heitere Gewimmel des kapitalistischen Welttreibhauses einmischen“.
Nein, auch die Konservativen und Liberalen traditioneller Prägung waren in Deutschland, ja in ganz Kontinentaleuropa auf das Kapital nicht gut zu sprechen. So ließ etwa der Liberale Theodor Mommsen in seiner „Römischen Geschichte“ kaum eine Gelegenheit aus, über die „argen Sünden gegen Nation und Zivilisation“ herzuziehen, die „in der heutigen Welt das Kapital“ begangen habe. Der römische Import von Luxusprodukten aus allen Teilen der Welt, ein Ausdruck antiker Globalisierung, galt dem strengen Historiker und späteren Nobelpreisträger als derart tadelnswert, dass er sogar eine Art Sittenpolizei befürwortete: Sie sollte all die Austern und Wachteln von den Tischen der Reichen kurzerhand wieder einsammeln.
Einigkeit herrscht bis heute auch in der Frage, wo all die Übel des modernen Kapitalismus eigentlich ihr geografisches Epizentrum haben: in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Herrschaft des Geldes, dieses großen Gleichmachers, galt gerade den Europäern mit ihrem Sinn für feine Unterschiede als überaus suspekt. Mommsen sprach – allerdings auch mit Blick auf die Sklaverei, die in den USA damals noch nicht abgeschafft war – von der „Drachensaat Amerikas“.
Nicht zufällig war es gerade ein Konservativer, der bis heute für diese Zähmung des Kapitalismus steht: Die Bismarck’schen Sozialgesetze, von der damaligen SPD noch als obrigkeitliches Instrument abgelehnt, gelten mehr denn je als die größte historische Leistung des ersten Reichskanzlers. Selbst noch die Politik Ludwig Erhards, des populären Wortschöpfers der „freien Marktwirtschaft“, bleibt nicht mit einem Freiheits-, sondern mit einem Gleichheitsmythos in Erinnerung: mit jenen 40 Mark, die er bei der Währungsreform 1948 an alle Bewohner der „Trizone“ austeilen ließ.
Das hatte Angela Merkel, als sie einst ihre längst vergessene Parole von der „neuen“ sozialen Marktwirtschaft ausgab, wohl nicht so ganz verstanden. Der Sauerländer Franz Müntefering weiß es sehr wohl.