: Das Weiße Haus wird brennen
USA Als würde nach 15 Reinhard-Mey-Platten endlich jemand AC/DC auflegen: Stephen Kings neuer Roman rockt
VON STEPHAN WACKWITZ
Amerika ist, neben vielem anderen, ein unheimliches Land. „The Weird, Old America“ hat Greil Marcus die USA in seinem Buch über Bob Dylans „Basement Tapes“ genannt. Die amerikanische Kultur ist nicht nur fortschrittlich und modern. Die USA sind zugleich auch ein Land der berühmten Kriminalfälle, Gespenstergeschichten, Hexenprozesse, Psychopathien, Sektenkarrieren und Monster. Das hängt mit der fast unübersehbaren Vielfalt der vormodernen Einwanderermilieus und Subkulturen zusammen, die seit dem 19. Jahrhundert Generation nach Generation den „American Way of Life“ übernommen und verinnerlicht haben, wodurch sie schnell – aber unvollständig – in die Moderne eingetreten sind.
Das Unheimliche aber, darüber hat uns Freud aufgeklärt, ist die Wiederkehr überwundener vormoderner Glaubensvorstellungen in postreligiösen Lebensverhältnissen. Der Schamanismus kehrt in der modernen Welt wieder als Telepathie, die Ahnenreligion als Gespensterfurcht, die Heiligenverehrung als suicide cult. Wie überhaupt die schwer bestreitbare Überlegenheit der modernen amerikanischen Kultur generell mit ihrer Nähe zu populär-vormodernen Erfahrungen zusammenhängt, so steht seit ihren Anfängen auch das Unheimliche im Zentrum der amerikanischen Imagination. Bei Edgar Allen Poe, bei Ambrose Bierce, bei H.P. Lovecraft. Und in der Gegenwart in Gestalt des monumentalen, sich seit den frühen siebziger Jahren entfaltenden und in die verschiedensten Genres ausdifferenzierenden Oeuvres von Stephen King.
King, der 560 Millionen Bücher in 40 Sprachen verkauft hat, erfährt seit Beginn des Jahrhunderts eine zögerliche und ihrer selbst nicht ganz gewisse Anerkennung der professionellen Literaturkritik in Amerika und Europa. Der New Yorker druckt und interviewt ihn. Seine Bücher werden, wenn auch mit einer Art augenzwinkerndem Camp-Nebengeräusch, in den ernstzunehmenden Feuilletons besprochen. Und mit dem Verblassen und sozusagen Ausfransen der künstlerischen Moderne, ihrer Ansprüche, Standards und vor allem ihrer verschwiegenen kulturreligiösen Orthodoxie, wird Stephen King erkennbar als eine Schriftstellergestalt wie aus der vom Modernismus noch unbehelligten literarischen Gründerzeit.
Seine gigantische Produktivität erinnert an die überlebensgroßen Künstlerfiguren des 19. Jahrhunderts, sein unbefangener Anspruch auf enzyklopädische Darstellung des Gesellschaftsganzen, seine kannibalistische Einverleibung der verschiedensten Genres, Traditionen und Erzählhaltungen in das eigene Werk. Stephen King ist eher ein Zeitgenosse Honore de Balzacs, Walter Scotts, George Gissings und Charles Dickens‘ als ein Epigone von Franz Kafka, Robert Walser und James Joyce, um die derzeit höchstdotierten Hausheiligen der angeblich ernster zu nehmenden zeitgenössischen E-Literatur zu nennen. Was ihn übrigens mit seinen hochliterarischen amerikanischen Zeitgenossen John Updike und Philip Roth wiederum durchaus verbindet. Stephen Kings fast schon ein ganzes Regal füllendes Werk ist so etwas wie die „Comédie Demonique“ der Zeit seit 1947, als er in Portland/Maine geboren wurde (als Sohn einer Putzfrau und eines Vaters, der vom Zigarettenholen nicht mehr zurückkam, als der Junge zweieinhalb war). Stephen Kings konservativ gezählt 80 Bücher seit seinem Durchbruch mit „Carrie“ 1972 sind eine gespenstische Enzyklopädie des amerikanischen Jahrhunderts.
„Der Anschlag“, sein neues Buch, die Geschichte einer Zeitreise in die sechziger Jahre, scheint die verschiedenen inhaltlichen Facetten und literarischen Fakturen dieses Werks zusammenzufassen. Jake Epping, ein Englischlehrer (Kings gelernter Beruf) in der Kleinstadt Lisbon Falls in Maine (wo King zur Schule gegangen ist) entdeckt ein Interface zwischen dem Jahr 2007 und 1958. Es besteht aus einem Punkt auf einer dunklen Kellertreppe (deren Beschreibung Jorge Louis Borges‘ „Aleph“ und Lewis Carolls „Rabbit Hole“ ebenso zitiert, wie der ganze Roman von einem dichten Netz von Anspielungen, vor allem natürlich auf H.G. Wells „The Time Machine“ durchzogen ist). Wenn man auf einem bestimmten Punkt dort stehenbleibt, fällt man durch in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Hat man sich lange genug im Jahr 1958 aufgehalten, kann man sich wieder auf dorthin stellen und kommt wieder im Jahr 2007 an. Mahlzeiten, die man 1958 gegessen, Krankheiten, die man sich in der Vergangenheit zugezogen hat, nimmt man in unsere Gegenwart mit. Und auch was man 1958 gemacht hat, wirkt weiter und zeitigt historische Konsequenzen. Dagegen stellt jede neue Zeitreise die vorhergegangenen und deren Ergebnisse wieder auf Null.
Dieses „Reset“-Handlungsdesign wird ergänzt durch ein weiteres Sciencefiction-Motiv, das des „Butterfly-Effects“, den sich Ray Bradbury 1952 in einer literarisch folgenreichen Kurzgeschichte mit dem Titel „The Sound of Thunder“ literarisch zum ersten Mal zunutze gemacht hat. Dieses Motiv besagt zunächst nicht mehr, als dass kleine Ursachen große Wirkungen hervorbringen können. In „The Sound of Thunder“ reist ein Chrononaut zur Dinosaurier-Safari in die Kreidezeit und entdeckt bei seiner Rückkehr erstens, dass er im Vorzeitdschungel einen Schmetterling zertreten hat, der an seiner Schuhsohle klebt und dass zweitens – als eine Konsequenz dieses minimalen Eingriffs in die Vergangenheit – die englische Orthografie einen alternativen Verlauf genommen hat und ein faschistischer Diktator die USA des Jahres 1952 beherrscht. Zusammen bringen das „Butterfly-Effekt“-Motiv und das „Reset-Motiv“ eine Art Mehrweltentheorie der Zeitreiseliteratur hervor: Mit jedem neuen Einstieg in die Vergangenheit kommt eine alternative Version der Weltgeschichte zustande.
Amerikanische liberals betrachten den 22. November 1963, den Tag des erfolgreichen Attentats Lee Harvey Oswalds auf John Fitzgerald Kennedy, als die Urkatastrophe der zweiten Jahrhunderthälfte. Ohne dieses Attentat, so argumentieren viele von ihnen, hätte es den Vietnamkrieg nicht gegeben, der Kalte Krieg wäre früher beendet worden, der Neokonservatismus hätte keine Chance gehabt.
Jake Epping, wie King selbst ein entschiedener liberal, beschließt, Oswalds Mordtat durch eine Zeitreise zu verhindern. Er transportiert sich also ins Jahr 1958, nimmt eine Lehrerstelle in einer texanischen Kleinstadt an, verliebt sich in eine Kollegin, quartiert sich in der Nähe Oswalds und seiner weißrussischen Frau Marina ein, folgt Oswalds Spuren und Taten bis zum 22. November des Jahres 1963 und hindert ihn tatsächlich im entscheidenden Moment daran, den Finger am Abzug krumm zu machen. Dafür kommt seine Freundin um, die zu seiner Komplizin und Helferin bei dieser Operation am offenen Herz der Geschichte geworden ist.
So unwahrscheinlich das alles in der Zusammenfassung klingt, so minutiös ist es recherchiert, so atmosphärisch genau ist es beschrieben und so sehr reißt einen die Kombination aus Liebesgeschichte, Historiengemälde, Schauerromantik und politischem Kriminalroman als Leser mit, in der Identifikation mit der Einsamkeit des Zeitreisenden und ultimativen Außenseiters Jake Epping, in den zahllosen treffenden Details der frühen sechziger Jahre, die Stephen King und sein langjähriger Rechercheassistent Russ Dorr zusammengetragen und kombiniert haben, vor allem aber aufgrund Kings großer Fähigkeit und Stärke, sympathische und zugleich tragische Figuren zu erfinden und glaubhaft zu machen.
Denn Jake Epping ist ein tragischer Held. Nicht nur weil er seine große Liebe verliert. Sondern auch deshalb, weil der „Butterfly-Effekt“ seine welthistorische Heldentat obsolet macht. Bei der Rückkehr ins Jahr 2007 (wo seit seiner Abreise nur wenige Minuten vergangen sind) findet er eine apokalyptische, radioaktivitätsverseuchte Ruinenlandschaft vor. Zwar hat JFK weiterregiert und der Vietnamkrieg hat tatsächlich einen anderen Verlauf genommen. Nämlich einen atomaren. Die Rassengesetzgebung zu reformieren, was der Südstaatler Lyndon B. Johnson im originalen Geschichtsverlauf bekanntlich hingekriegt hat, ist JFK nicht gelungen. Das gesamte republikanische Potential der Südstaaten rottete sich gegen den smarten Yankee zusammen, der Senat blockierte seine Gesetzgebung durch monatelange Dauerreden und Kennedys letztes Diktum vor seinem Rücktritt ist in die alternative Geschichte eingegangen: „Das weiße Amerika hat sein Haus bis unters Dach mit Zunder angefüllt. Jetzt wird es brennen.“
Was dann natürlich genau so passiert. Der Aufstand der Schwarzen in Chicago wird durch ein Flächenbombardement niedergeschlagen. Dann gehen Atomkraftwerke in die Luft. Eine geheimnisvolle Serie von Megaerdbeben verändert die Landkarte. Hokkaido versinkt im Meer. Maine ist aus den Vereinigten Staaten ausgetreten und hat sich Kanada angeschlossen. Lisbon Falls ist eine Stadt der verfallenen Eigenheime, der von atomarer Strahlung zerfressenen Alten und marodierender Jugendbanden. Jake bleibt nichts anderes übrig, als noch einmal in die Vergangenheit zu reisen und zurückzukommen in die uns bekannte Wirklichkeit, in der Kennedy tot ist und nichts anderes herrscht als der uns vertraute Weltlauf, wie er nun mal ist.
In einer einleuchtend rührenden Abschiedsszene fährt unser Held in das texanische Städtchen, in der seine Liebste, die nichts von ihm weiß, immer noch lebt, eine alte Frau. Am Schluss des Romans sehen wir die beiden, die in einer anderen Wirklichkeit ein Liebespaar gewesen sind oder gewesen wären oder vielleicht irgendwie immer noch sind, miteinander zu Glenn Millers „In the Mood“ tanzen.
In ihrer Nähe zur volkstümlichen Imagination, in ihrem vormodernen Respekt vor den Bedürfnissen real existierender Leser, in ihrer Unbehauenheit, ihrer beruhigenden Masse und in ihrer schieren Unwiderstehlichkeit sind Stephen Kings Bücher ein auch für Gebildete unter den Verächter literarischer middlebrow-Langeweile empfehlenswertes Gegengift. Als würde jemand nach 15 Reinhard-Mey-Platten endlich mal AC/DC auflegen (Kings Lieblingsband).
Im Hause King schreibt bekanntlich fast die ganze Familie, nicht nur der pater familias, sondern auch seine Frau Tabitha King und die Söhne Owen King und Joe Hillstrom (unter dem Pseudonym Joe Hill). „Joe, you rock“, schreibt Vater Stephen in den „Acknowledgements“ über seinen Sohn, der offenbar die – wirklich sehr gute – Schlusswendung des Buchs suggeriert hat. Und irgendwie ist dieser Drei-Wort-Satz zugleich ein sehr gelungenes Selbstporträt.
■ Stephen King: „Der Anschlag“. Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner. Heyne Verlag, München 2012, 1.056 Seiten, 26,99 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen