: Ordentlich was auf die Ohren
In weiten Teilen Berlins ist es lauter als vom Senat gewünscht: Schuld ist oft Straßenlärm. 90 Prozent der Berliner fühlen sich durch ihn belästigt. Auch laute Nachbarn und Kneipen gehen auf die Nerven – und machen im schlimmsten Fall krank
VON CHRISTO FÖRSTER
Eine Viertel Minute Stille. Auch die Deutsche Gesellschaft für Akustik (DEGA), die heute zum „Tag gegen Lärm“ und zu 15 Sekunden Innehalten um 14.15 Uhr aufruft, weiß, dass dies nur eine symbolische Aktion sein kann. Tatsächliche Ruhe ist – vor allem in Großstädten – schon lange nur noch ein frommer Wunsch.
Nach einer Online-Studie des Umweltbundesamts fühlen sich 90 Prozent der Berliner durch Straßenlärm belästigt. Immerhin 71 Prozent stören laute Geräusche aus der Nachbarschaft. Dass Lärm nicht gleich Lärm ist, zeigen die peniblen Kategorisierungen: Der Rasenmäher erzeugt Gerätelärm, laute Musik in der Nebenwohnung Hauslärm und das Stimmengewirr aus der Kneipe fällt unter Schanklärm.
Während etwa Verkehrskrach noch recht zweifelsfrei als solcher zu bewerten ist, wird die Einordnung des Lärms aus der Nachbarschaft schon subjektiver. Was der Mensch tatsächlich als störend empfindet, hängt nämlich vor allem von der individuellen Befindlichkeit ab. So beschweren wir uns kaum über Meeresrauschen oder Vogelgezwitscher, obwohl beides hohe Dezibel-Zahlen erreichen kann: Bis zu 80 Dezibel Krach können etwa Vögel machen – Autos in der Stadt sind oft nicht leiser.
Die Lärmwirkungsforschung weiß immerhin, dass das Herzinfarktrisiko bei einem Geräuschpegel über 70 Dezibel deutlich ansteigt. Von dieser Zahl leitete die Senatsumweltverwaltung ihre Zielwerte für das Stadtgebiet ab. Tagsüber will man 65 Dezibel nicht überschreiten, nachts liegt die Grenze bei 55 Dezibel. Um diese Werte einordnen zu können, genügt ein Blick in die letzte Verkehrslärmstudie des Senats: Am Tag wird der kritische Wert in über 60 Prozent des erfassten Straßennetzes übertroffen, im Nachtzeitraum ist der Geräuschpegel in 80 Prozent der Verkehrswege höher als gewünscht. An einigen Orten, wie etwa der Schnellerstraße in Schöneweide oder der Hermannstraße in Neukölln, dürfen sich die Anwohner bei Spitzenwerten über 80 Dezibel fühlen wie in einer Fabrikhalle. Vor allem im Ostteil der Stadt tragen die Straßenbahnen zusätzlich zur Lärmbelastung bei; Kopfsteinpflaster auf vielen Straßen macht aus vorbeizuckelnden Autos dröhnende Vehikel.
Solch eine extreme Dauerbeschallung ist nicht nur lästig: Sie ist vor allem eine Gefahr für die Gesundheit. Neben dem erhöhten Herzinfarktrisiko sind Schlaflosigkeit und Konzentrationsstörungen Folgen des Lärms. 14 Millionen Deutsche sind mittlerweile schwerhörig, drei Millionen an Tinnitus erkrankt – Tendenz steigend. Brigitte Schulte-Fortkamp, Lärmexpertin an der Technischen Universität Berlin und Mitglied der DEGA, hält den „Tag gegen Lärm“ deshalb für besonders wichtig: „Die Menschen müssen erkennen, dass sie zunehmend Opfer ihrer eigenen akustischen Umweltverschmutzung werden.“
Neben der Hoffnung auf eine selbstkritische Hinterfragung jedes einzelnen setzt Schulte-Fortkamp dabei auf die Politik: Die 2002 verabschiedete EU-Richtlinie für Umgebungslärm verpflichtet auch den Berliner Senat, bis 2008 einen Aktionsplan zur Lärmminderung für das gesamte Stadtgebiet aufzustellen.
Dann könnte es auch strengere Regeln geben, wie lange Kneipen draußen ausschenken dürfen. In dieser Frage sind sich die Berliner aber uneins: Eine Forsa-Umfrage fand heraus, dass die Mehrheit (60 Prozent) zwar für eine zeitliche Beschränkung des Open-Air-Erlebnisses vor Kneipen ist. 37 Prozent würden aber unbegrenztes Draußensitzen tolerieren, bei den unter 30-Jährigen sind es gar 52 Prozent. Lärm ist eben relativ. So ist in Friedrichshain am Boxhagener Platz und in der Simon-Dach-Straße im Einvernehmen mit den Anwohnern die Bewirtung bis 24 Uhr erlaubt, während laut Lärmschutzverordnung sonst schon zwei Stunden früher die Stühle hereingeholt werden müssen.