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Archiv-Artikel

Der oberste Geschmacksbestimmer

VON KAI SCHLIETER

Sergej Lochthofen stahl der DDR Das Volk. So hieß das SED-Parteiorgan, für das er zuvor außenpolitische Kommentare geschrieben hatte. Im Januar 1990, er war gerade 36 Jahre alt, entmachtete Sergej Lochthofen die Volks-Chefredaktion. Er sorgte dafür, dass Das Volk als erste Bezirkszeitung der untergehenden DDR befreit wurde. Das Volk wurde die Thüringer Allgemeine. Vom neuen Redaktionsrat ließ sich Lochthofen zum Chefredakteur ernennen. Er selbst verwandelte sich von einem Parteijournalisten zu einem wichtigen Meinungsführer in Ostdeutschland. So nennen ihn manche. Bodo Ramelow etwa. Er ist Spitzenkandidat der Linkspartei für den Posten des Thüringer Ministerpräsidenten. Er kennt den Chefredakteur seit Jahren. „Das Phänomen Lochthofen ist einmalig“, sagt er.

Gegen 11.30 Uhr, im Druckhaus der Thüringer Allgemeinen, zweites Stockwerk. An den Wänden von Lochthofens Büro hängen gerahmte Collagen, düstere Szenen in gedeckten Farben. Sie zeigen einen hageren, kahlköpfigen Mann. Er sieht aus wie Lochthofen. „S. L.“ lautet die Signatur. Das steht für Sergej Lochthofen. Er hat als junger Mann einige Semester Kunst auf der Krim studiert. Jetzt leitet er die tägliche Telefonkonferenz mit den Redakteuren der 14 Lokalausgaben. Der Chefredakteur, 55 Jahre alt, ist nicht nur ein Chef, er ist auch Herrscher seiner Zeitung. Er geht die Ausgaben von Artern bis Weimar durch. Schlechte Fotos, langweiliges Layout. „Es gibt bei 14 Ausgaben immer einen, der es nicht versteht“, sagt er. Er macht dabei mit einem Mont Blanc penibel Notizen. Lochthofens Arbeitstag beginnt um 7 Uhr mit Morgennachrichten, sein Büro verlässt er gewöhnlich um 21 Uhr. So geht das jeden Tag. Noch abends liest er sich alle 14 Lokalausgaben des kommenden Tages durch. Er sagt, es wäre „unredlich“, über Arbeitsbelastung zu klagen. Anders als seine Untergebenen spricht er akzentfrei Hochdeutsch. Für einen wie ihn, der aus der Kälte Workutas kommt, ist das nicht selbstverständlich. In sibirischer Verbannung brachte ihn seine russische Mutter zur Welt – sein Vater hatte gerade den Gulag überlebt.

Die Kaderschmiede

Die Wende war für Lochthofen ein Glücksfall: Er konnte den Neuanfang der Zeitung begründen. In der DDR hatte Sergej Lochthofen als Sowjetbürger kein SED-Parteibuch besitzen dürfen. Was ihn damals für eine weiterführende Karriere ausbremste, ebnete ihm nun den Weg. In der ersten Ausgabe der Thüringer Allgemeinen steht: „Lange noch werden die Medien im Land an ihrer Mitschuld für die Unterdrückung ihres ureigenen Rechtes auf Unabhängigkeit zu tragen haben. Die Journalisten dieser Zeitung haben mit der Erneuerung begonnen. Sie wollen nicht zu denen gehören, die sich schwer trennen können von alten Strukturen und Symbolen.“ Als Gründe für seine lange Amtszeit nannte Lochthofen noch vor fünf Jahren in einem Interview: „Keine Stasi. Keine Partei. Auch kein Polit-Studium in Moskau.“

Parteimitglied waren damals so gut wie alle, Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit einige, mit denen Lochthofen die Thüringer Allgemeine aufgebaut hat. Am 28. Februar 1990 wird die „‚Thüringer Allgemeine‘ Mitarbeiter-Beteiligungs-GmbH“ mit der Nummer HRB 100009 und einem Kapital von 25.000 DDR-Mark beim staatlichen Notariat Erfurt eingetragen. Noch heute gehört die Zeitung zu einem Teil dieser GmbH. Als Gesellschafter beziehungsweise Geschäftsführer der GmbH unterzeichneten einige, die auch heute noch die Zeitung führen. Der Chefredakteur und seine Frau Antje-Maria Lochthofen etwa. In der DDR lernten sich die beiden in der Kaderschmiede für SED-Propagandisten kennen: der Sektion Journalistik der Universität Leipzig. Während Lochthofen nach dem Studium in Leipzig für das Volks-Auslandsressort schrieb, arbeitete seine Frau für die Wochenendbeilage der Zeitung. Nur die aussichtsreichsten Genossinnen der Republik besuchten danach noch die SED-Parteihochschule. Antje-Maria Lochthofen wurde schließlich stellvertretende Chefredakteurin beim Volk. Damit bekleidete sie in der SED-Bezirkszeitung die gleiche Funktion wie heute bei der Thüringer Allgemeinen. Die Stellvertreterin des Chefredakteurs spricht am Arbeitsplatz formalistisch in der dritten Person von ihrem Mann. Sie sagt „der Chefredakteur“.

Auch die beiden anderen ehemaligen Stellvertreter finden sich im Handelsregister. Wolfgang Lindenlaub etwa, der seinen Dienst noch bis vor kurzem ausübte. Und Detlev Rave, der bis 2007 amtierte. Er leitete in der DDR das Landwirtschaftsressort des Volks. In der Zeitung soll er im Auftrag der SED auch die Linientreue der Parteijournalisten überwacht haben: „Man musste bei ihm vor der Türe warten wie beim Arzt und wurde dann auf sein sozialistisches Betragen geprüft“, sagt jemand, der noch Jahre später in den Fluren der Thüringer Allgemeine die Faust in der Tasche ballte, wenn ihm der stellvertretende Chefredakteur Detlev Rave über den Weg lief.

Der Neuanfang der befreiten Zeitung blieb also Illusion. Lochthofen sagt dazu: „Man darf nicht dem Irrglauben verfallen, dass 98 Prozent der DDR-Bürger im Widerstand gestanden haben. Ein Großteil saß bei ARD und ZDF in der ersten Reihe und hat geschaut, was passiert. So geschehen Übergänge, so war das auch in der Redaktion.“ Aus dem Handelsregister ist Rave im April dieses Jahres gelöscht worden. Übrig ist nur noch Sergej Lochthofen: Er ist also nicht nur Chefredakteur, sondern auch Miteigentümer der Zeitung. Lochthofen mildert das ab und sagt zur geschäftlichen Transaktion in der Wendezeit: „Die Investitionen damals gingen in die Milliarden. Es ist lächerlich zu glauben, dass man da mit dem Knopf in der Hosentasche mitmachen konnte.“ Damals stieg der WAZ-Konzern zu 50 Prozent bei der Thüringer Allgemeinen ein. Das war noch vor der Wiedervereinigung, unter der Regierung Modrow. Die WAZ reizten rasche Profite – eine IM-Überprüfung ehemaliger Volks-Mitarbeiter wäre womöglich ungünstig verlaufen. Also ließ man es lieber.

Der Stasi-Jäger

Der Erste, der sich für die Schatten der Vergangenheit interessierte, heißt Andreas Möller. Möller war einmal Stasi-Jäger, 1990 hat er in Thüringen die Bild-Zeitung aufgebaut. Heute ist er ein schwerer Mann mit geröteten Augen, leidet unter Kreislaufschwäche und trägt gerne eine Strickjacke. Er wohnt in Arnstadt, nicht weit weg vom Thüringer Wald. Möller ist ein unkonventioneller Bild-Journalist. In seinem Garten weht eine Tibet-Fahne, denn Herr Möller ist Dalai-Lama-Fan. Und vermutlich der einzige Bild-Reporter, den die Linkspartei für ein Amt vorgeschlagen hat: als Stiftungsrat der „Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur“. Möller kam als Fluchthelfer von 1962 und 1965 in Stasi-Haft. Im Gefängnis wurden ihm die Knochen gebrochen. Dann kaufte ihn die Bundesrepublik frei.

1995 betitelt Andreas Möller einen Artikel wie folgt: „So sicher sind Spitzel bei der Thüringer Presse“. Es geht in der Geschichte auch um einen belasteten Journalisten bei der Thüringer Allgemeinen. Er benennt weitere IMs, die er jederzeit aufdecken könne. In den folgenden Wochen kommen Journalisten von Zeitungen und Sendern zu Möller, das Telefon hört nicht auf zu klingeln. Sie wollen über die Vergangenheit sprechen. „Redakteure, die ihre Ressortleiter in die Pfanne hauen wollten. Mich hat das angewidert“, sagt er.

In der Landespressekonferenz gilt der Bild-Mann bei einigen als Nestbeschmutzer. Kollegen stehen auf, wenn er sich setzt. Er sagt, ihm sei es darum gegangen, dass sich die Täter offenbarten, dass sie gezwungen würden, sich zu rechtfertigen. Wegen Möllers Berichterstattung entlässt das Freie Wort aus Suhl Mitarbeiter, die Thüringer Allgemeine „hat überhaupt nicht reagiert“, sagt er. Intern sorgt sein Bericht über den „IM Venus“, einen belasteten Redakteur der Zeitung, für Unruhe. Jemand, der damals in der Konferenz saß, sagt, Lochthofen hätte betont, entweder werde jetzt eine IM-Überprüfung stattfinden oder – wofür er plädiere – über den betroffenen Redakteur solle nicht mehr gesprochen werden. Damit war das Thema erledigt.

In Medienkreisen tauchten Gerüchte auf, Möller habe sich zuvor bei der Thüringer Allgemeinen beworben und sei abgelehnt worden. Möller sagt: „Diese Bewerbung hat es nie gegeben.“ Vielmehr hätte er noch etliche Medienleute „kaputtmachen“ können. Die etwa 50 Stasiakten, die ihm zugespielt wurden, habe er im Acker eines Freundes vergraben. In einer Aluminiumkiste, vor Korrosion geschützt. In einem seiner Artikel schreibt Möller: „Bild könnte eines Tages auch ‚IMB Peter Sturz‘ enttarnen“. Er überlässt den Agenten einem anderen Journalisten. Der Klarname von „Peter Sturz“ ist Peter Sterzing. Er war Ressortleiter in der Auslandsredaktion des Volks. IMB Sturz war Sergej Lochthofens Chef. In einem Interview sagte der Enttarnte 1995: „Ich habe nie etwas unterschrieben.“ Lochthofen sagt: „Der ist im Auslandseinsatz gewesen, das war klar, dass der auch bei der Stasi war. Reisekader waren ja meistens dabei. Was er im Einzelnen wem angetan hat, war nicht das Thema im Ganzen.“ Nach der Wende arbeitete Sterzing mit Billigung der WAZ als Geschäftsführer im Verlag. Aus der Mitarbeiter-4Beteiligungs-GmbH der Thüringer Allgemeinen stieg er erst am 24. Mai 2004 aus.

200.000 Exemplare der Thüringer Allgemeinen werden täglich gedruckt. Die Zeitung gewinnt jährlich Preise für Fotografien oder Design. Der Chefredakteur ist bei Nachrichtensendern als Interviewpartner gefragt, weil er schon kurz nach 7 Uhr druckreife Sätze spricht. Er saß lange im Presserat, ist Dauergast im Presseclub der ARD, den andere Chefs von Regionalzeitungen nur aus dem Fernsehen kennen. Er ist gefragt, weil er konfrontativ ist. Er kann offen überheblich und angriffslustig sein, seine Positionen sind wandelbar und schwer zu berechnen. In der Mediendenke funktioniert er zudem als „Stimme des Ostens“. Ein Redakteur, der schon zu DDR-Zeiten dabei war und die Vergangenheitsbewältigung kritisch beurteilt, sagt: „Wenn er nicht das Zepter an sich gerissen hätte, wäre die Zeitung den Bach runtergegangen.“ Bodo Ramelow sagt: „Wenn es nicht eine so treibende Person wie ihn gegeben hätte, gäbe es die Erfolgsgeschichte der WAZ so nicht in Thüringen.“ Ramelow kennt sich aus. Er war zu Wendezeiten als Gewerkschafter mit dem Umbau der volkseigenen Betriebe in Thüringen beschäftigt. „Wir haben alle nicht gewusst, was in ihm steckt“, sagt jemand, der noch den jungen Auslandsredakteur vor Augen hat.

Vom Gulag ins ZK

Um Sergej Lochthofens Ehrgeiz zu verstehen, ist es wichtig, auf seinen Vater einzugehen. Den Kommunisten Lorenz Lochthofen. Der verbrachte 20 Jahre seines Lebens im Gulag und in der Verbannung von Workuta. 1930 kommt er aus Dortmund in die Sowjetunion und arbeitet als Bergwerksschlosser ein Jahr in einem Schacht am Donbass, einem großen Steinkohlegebiet in der Ukraine. Er studiert Journalismus in Moskau, 1935 schickt ihn die KPD an die kommunistische Universität in Engels, wo er Politökonomie lehrt. Schließlich arbeitet er bis 1937 als Redakteur bei der deutschsprachigen Zeitung Nachrichten. Die Zeitung bescheinigt: „Gen. Lochthofen bewies bei allen Arbeiten sein ernstes literarisches Können und seine politische Reife.“ So steht es in der Kaderakte, die in einem Moskauer Archiv liegt. Aus ihr ergibt sich auch, wie er als Deutscher denunziert wird und den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fällt. Ein Gericht verurteilt ihn 1938 zu acht Jahren Zwangsarbeit in Workuta, einem der schlimmsten Gulags. Erst 1947 darf er das Arbeitslager verlassen, danach kommt die Verbannung. 1956 wird er von einem Gericht in Saratow rehabilitiert, im November 1958 darf er in die DDR ausreisen. 1963 wird er schließlich auf dem VI. Parteitag der SED ins Zentralkomitee berufen. Vom Gulag ins ZK: Lorenz Lochthofen ist wohl der einzige Häftling, dem dies gelingt. Dem Sohn hat das imponiert. Auch wie sein Vater später das Büromaschinenwerk in Sömmerda leitet, den größten Betrieb im Bezirk Erfurt, mit tausenden Mitarbeitern. Er erarbeitet sich den Ruf eines auch auf sich selbst keine Rücksicht nehmenden Anpeitschers.

Die Geschichte seines Vaters ist wichtig. Denn sie eicht Sergej Lochthofens Einstellung zum Leben. Sie symbolisiert, wie einer trotz großen Leids Herausforderungen meistern kann. Blickt man auf Sergej Lochthofen, erklärt sie vielleicht auch dessen Härte, die nötig ist, um 20 Jahre lang alles dem Beruf unterzuordnen. Die Geschichte seines Vaters relativiert für ihn auch die Geschichte der DDR-Diktatur. Er selbst wächst die ersten 5 Jahre seines Lebens in Workuta auf. „Wenn wir heute meckern über die DDR, dann ist das im Verhältnis zu dem, was ich im Stalinismus erlebt habe, nichts. Es gab in der DDR immer Situationen, in denen man Hoffnung schöpfte.“

In der DDR interessierte sich wegen der Familiengeschichte auch der russische Geheimdienst für Sergej Lochthofen. Das stünde in seiner Stasi-Opferakte, sagt er. Die Gerüchte vom Chefredakteur als KGB-Agent seien hingegen von Westkollegen lanciert worden. „Es geht wohl auch darum, ob es gottgewollt ist, dass ein Ostdeutscher in einer Chefredaktion sitzt.“

Lochthofens Fehler, als Parteijournalist die Herrschaftssicherung einer Diktatur gestützt zu haben, folgte nach der Wende das absolute Gegenteil. Er erhob das Diktat der totalen Politikferne. Es gilt für alle Redakteure. Lochthofen hat dafür ein russisches Sprichwort: „Ein Kind, das sich an heißer Milch verbrannt hat, bläst auch auf kaltes Wasser.“ Wer sich von seinen Redakteuren heute zu sehr in die Nähe der politischen Klasse begibt, muss unerquickliche Gespräche mit ihm führen. Ein Bundespolitiker aus Thüringen spricht von einer „Diktatur der Neutralität. Die sagen, wir können jeden in die Pfanne – das machen sie auch.“ Nachdem der ehemalige Staatsminister Rolf Schwanitz (SPD) ein Interview bis zur Unkenntlichkeit autorisiert hatte, druckte die Zeitung eine weiße Seite ab.

In Thüringen sind am 30. August Landtagswahlen. Bodo Ramelow sagt: „Wenn Lochthofen morgen den Daumen rauf oder runter machen würde, könnte er entscheiden, ob einer Kandidat wird oder nicht.“ Doch auch die Macht des Chefredakteurs schwindet. Immer mehr der alten Mitstreiter sind schon in Rente. Anfang dieses Jahres ist die WAZ in die Mitarbeiter-Beteiligungs-GmbH eingestiegen. Die Konzernzentrale aus Essen hat Klaus Schrotthofer als Geschäftsführer in Thüringen installiert. Einen Westdeutschen, der selbst Chefredakteur war. Der vorherige Geschäftsführer pfuschte Lochthofen nicht ins Handwerk. Mit Schrotthofer aber sind die Arme der Krake WAZ auch in der Redaktion in Thüringen zu spüren. Intern heißt Schrotthofer „Das Auge von Mordor“. In Tolkiens „Herr der Ringe“ spioniert das Auge für den bösen Sauron Mittelerde aus. Schrotthofer wäre für Lochthofen demnach der IM, der aus dem Westen kam.

■ Der Autor war zwischen 2006 und 2008 Parlamentskorrespondent der Thüringer Allgemeinen.