: „Ich bin schon zu lange hier“
Im Diakoniehaus am Salierring sollen Kranke und Obdachlose auf ein Leben in den eigenen vier Wänden vorbereitet werden. Das gelingt nicht immer. Epileptikerin Rita Müller sucht noch eine Bleibe
Von CLAUDIA LEHNEN
Rita Müllers* Vergangenheit ist zerstückelt auf Hosentaschenformat. Auf unzähligen Fotografien hat die 38 Jahre alte Frau nahezu jeden Menschen festgehalten, der ihr im Laufe des Lebens begegnet ist. „Das sind meine Eltern. Da waren sie noch jung und knackig“, erklärt sie und zeigt auf eine Schwarz-weiß-Aufnahme neben dem Waschbecken.
Heute sei ihre Mutter 80 Jahre alt, seit drei Jahren komme sie nicht mehr zu Besuch. „Das Elend konnte sie nicht mehr ertragen“, sagt Rita Müller und schiebt die Unterlippe nach oben. Das Elend, das ihre Mutter nicht mehr sehen möchte, ist das Leben der Tochter. Seit etwa 30 Jahren leidet Rita Müller an Epilepsie. Sie lebt in der Krankenwohnung im Diakoniehaus am Kölner Salierring.
Medizinische Hilfe nötig
Tag der offenen Tür im Diakoniehaus Salierring. Rolf Tolzmann, Leiter der Einrichtung, zeigt Waschküche, Kleiderkammer, Toiletten, Appartements für Wohnungslose. Und einen Werbefilm, in dem viele Menschen mit traurigen Augen zu sehen sind, kontrastiert mit Bildern aus einer Gesellschaft, die im Überfluss lebt.
Ein bisschen vom Überfluss möchten Tolzmann und seine Mitarbeiter gerne abhaben. Genau 100.000 Euro im Jahr. „So viel brauchen wir, um den Betrieb hier aufrecht zu erhalten“, sagt Liane Simon, zuständig für die Spendenakquise. Zu Werbezwecken gibt es deshalb heute hier Kuchen, einen Film und ein Stück aus Rita Müllers Leben.
„Meine Mama ist lieb“, sagt Rita Müller unvermittelt, tritt von einem Bein auf das andere und öffnet den Reißverschluss ihrer Bauchtasche. „Magst du mal meinen Anfall-Ausweis sehen?“ Sie nestelt in ihrer Tasche, zieht einen Kalender heraus, erklärt Eintragungen. „Kreise bedeuten schlimme Anfälle“, erläutert sie. Der März ist voll davon, der April auch.
Allein leben kann die Frau mit dem hochgebundenen Pferdeschwanz nicht. Sie benötigt medizinische Versorgung, Hilfe bei alltäglichen Handgriffen. Und einen wie Klaus, der auch in der Krankenwohnung lebt und sie aufliest, wenn sie bei einem Anfall mal wieder gegen die Heizung geknallt ist.
Rita Müller zeigt auf ein Klaus-Bild in ihrer Galerie und lächelt. „Ich nenne ihn nur noch Schwester Klaus.“ Wenn sie lächelt, wird ihr Gesicht ganz klein. Sie sieht dann aus wie eine alte Frau. Es ist ihr zur Gewohnheit geworden, die Unterlippe schützend über den zahnlosen Oberkiefer zu stülpen. „Alle wegen der Krankheit verloren“, sagt sie, ohne dass sie über ihr schadhaftes Lächeln betrübt zu sein scheint.
Seit drei Jahren lebt die chronisch Kranke in der Sechszimmerwohnung, so lange wie kein anderer ihrer Mitbewohner. Nun wollen sowohl die Diakonieleitung als auch Rita Müller diesen Zustand beenden. „Ich bin schon zu lange hier“, sagt sie. Eine andere Bleibe, gar eine eigene Wohnung, das würde ihr gefallen. Raus aus dem kleinen Zimmer, in dem ihr Leben zwischen Bett, Schrank, Waschbecken und Fernseher nur noch auf „neun mal dreizehn Zentimeter matt“ Platz findet – dem Format ihrer Fotos. „Aber alleine leben kann ich nicht.“ Eine Wohnung im Behindertenwohnheim bekommt sie auch nicht ohne weiteres. Bisher sind alle Bewerbungen gescheitert. „Denen war ich noch zu aktiv“, glaubt sie.
Nötige Zugeständnisse
Die Krankenwohnung ist ebenso wie das Betreute Wohnen für Obdachlose nur als Übergangsprojekt gedacht. „Wir versuchen, die Menschen weiter zu vermitteln oder sie fit zu machen für eine eigene Wohnung“, sagt Tolzmann. Dass er Rita Müller noch nicht weiter vermitteln konnte, ist nicht der einzige Rückschlag, mit dem er leben muss. Auch mit dem Misstrauen derjenigen, denen es finanziell gut geht, muss er zurecht kommen. Es ist ein Zugeständnis, das ihm nicht so recht schmecken will, wenn er nun Gutscheine für Obdachlose an die Bürger zu bringen versucht. Gutscheine für zwei Euro, die man anstelle einer Geldspende an Wohnungslose weiter geben kann, die dafür im Diakoniehaus ein Frühstück oder einen Teller Suppe bekommen.
Die Idee eines ehrenamtlichen Mitarbeiters sei für diejenigen Menschen gedacht, die helfen wollen, auf der Straße lebenden Menschen aber kein Geld für Alkohol geben wollten. „Moralisieren wollen wir damit aber nicht. Natürlich ist es okay, wenn sich Obdachlose von dem Geld, das sie bekommen, ein Bier kaufen“, sagt Tolzmann. Simon fügt hinzu: „Anders würde man das Leben auf der Straße wohl gar nicht ertragen.“
Rita Müller trinkt keinen Tropfen. „Alkohol wäre für mich als Epileptikerin Gift.“ Wenn man sie nach den Freuden des Lebens fragt, dann sagt sie, dass sie Stofftiere gerne hat und Videos. Auf dem Fernseher liegt eine Kassette mit der Aufschrift „Nobody ist der Größte“. Manchmal sündigt sie auch und trinkt eine Tasse Kaffee. „Das sollte ich auch nicht. Aber es schmeckt mir so.“
* Name geändert
Diakoniehaus Salierring 19, Tel 0221/27 69 70-0. Gutscheine können telefonisch bestellt oder persönlich abgeholt werden, Spendenkonto 13 14 15 bei der KD Bank, BLZ 350 601 90.