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Archiv-Artikel

Der Stadtraum als Collage

PHÄNOMEN BERLIN Als Altphilologe kam André Kirchner nach Berlin. Die Stadt machte ihn zum Fotografen. Er liest in der Physiognomie der Stadt wie in einem Text. Zwei Ausstellungen in Tempelhof und ein neuer Bildband zeigen nun sein Werk

Die Fotografie bildet das Vorhandene nicht nur ab, sie macht es vor allem anschaulich

VON RONALD BERG

Berlin, Charlottenstraße, 1991: Der Blick geht über den Kohlenhaufen auf dem Bürgersteig geradewegs durch das Haus hindurch, hinter Neonreklame, Ornamentkartuschen und Sandsteinfassade, entlang der Stahlträger und rohen Backsteinwände, noch hinter Notdach und provisorischem geschlossenem Erdgeschoss bis in den Hinterhof, den schon das Nachbarhaus seitlich abschließt. Solche Ein- und Durchblicke liebt André Kirchner. Deshalb hat er es fotografiert. Heute ist die kriegsbeschädigte Halbruine nahe der Straße Unter den Linden geflickt, modernisiert und verwehrt tiefere Einblicke.

Lesen in der Physiognomie einer Stadt wie in einem Text, so könnte man André Kirchners fotografische Methode beschreiben: Die Stadt heißt Berlin, ihr Textmaterial sind Häuser und Straßen, aber auch und gerade die Brachen, Brüche und Baustellen. In ihnen kann man die Stadt als Palimpsest erfahren. Und zwar nicht nur da, wo unter dem abblätternden Putz eine alte Schrift auf der Fassade wiederauftaucht, wie bei Scherings Grüner Apotheke in der Zinnowitzer Straße. Kirchner hat die ephemere Erscheinung einer früheren Zeit im Hier und Heute des Jahres 1991 mit der Kamera festgehalten.

Als André Kirchner 1980/81 aus Bayern nach Berlin kam, kam er nicht als Fotograf, sondern um Altphilologie zu studieren. Doch das Umherschweifen in der Stadt mit der Kamera wurde ihm zur Gewohnheit und schließlich zum Beruf.

In der Galerie im Rathaus Tempelhof beginnt die Auswahl aus „30 Jahren Stadtfotografie“ von André Kirchner mit Ansichten aus den frühen 80er Jahren, etwa von einer Potsdamer Straße, deren Häuser samt der darin befindlichen Bordelle inzwischen abgerissen sind.

Mitte der Achtziger wechselte Kirchner vom Kleinbild zur großformatigen Plattenkamera, der Schritt zur Professionalisierung für den Autodidakten. Das Schwarzweiß der frühen Jahre behielt er bei. Doch statt der Details richtete er seine Linhof 4x5 von nun ab in die Totale. Kirchners Begründung: Das „Bildganze der gegenständlichen Fotografie kann als Collage seiner räumlichen Bestandteile begriffen werden“, so die Erkenntnis des studierten Philologen.

Was da tatsächlich im Stadtraum wie collagiert auf- und nebeneinandertritt, bekommt auf Kirchners Fotos nicht selten den Anschein von etwas Surrealistischem. Was eben nichts anderes heißt, als dass der Fotograf aus dem Alltag der Stadt eine Bildkomposition macht, die sich des Alltäglichen enthebt.

Kirchners Motiv ist immer die nämliche Stadt Berlin, oft sogar sind es dieselben Orte, dieselben Häuser, nur dass sie sich im Laufe der Jahrzehnte verändern, so als wären sie lebendig. Der Berliner Schlossplatz beispielsweise führte in der Zeit, da Kirchner ihn mit der Kamera begleitete, ein sehr schnelles und bewegtes Leben: Palast, Abriss, grüne Wiese. Auch der Rest der Berliner Mitte veränderte sich unaufhörlich. Hinter dem Leipziger Platz konnte Kirchner 2004 daher eine recht bunte Mischung von Baukörpern fotografieren: Neben dem stehen gelassenen Grenzwachturm platzieren sich neu aufgepflanzte Straßenlaternen und festgebundene Jungbäumchen vor frischen Brandmauern, Baucontainern und der typisch Neuberliner Blockrandbebauung – diesmal von der Rückseite.

Auf Kirchner Fotos herrscht immer Sonnenschein. Warum Sonne? Weil sie mit ihrem Schatten die Gebäudecollage als plastisches Gebilde erst erzeugt und mit ihrem Streiflicht deren Oberflächen modelliert. Die Fotografie bildet das Vorhandene nicht nur ab, sie macht es vor allem anschaulich: Aus ästhetischen Gründen werden etwa von Kirchner alle stürzenden Linien schon vor der Aufnahme auf der Kameramattscheibe geradegerückt, so wie es der konstruktiven Wahrheit entspricht, einer Wahrheit, die das menschliche Auge nicht zu folgen vermag, wohl aber das Kamerabild.

Eigentlich arbeitet Kirchner fast immer in Serien. Dieses Systematische in Kirchners Arbeitsweise kommt in der aktuellen Ausstellung kaum zur Geltung. Statt der Serien von fehlenden Eckbauten, mit Nachtaufnahmen, vom ehemaligen Mauerstreifen rings um Berlin oder den architektonischen Kreationen des „Neuen Berlin“ gibt es jetzt Einzelbilder als Stichproben.

Ausnahmsweise sieht man bei den neuesten Fotos der Ausstellung, jenen von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche aus dem letzten Sommer, wie Kirchner sein Motiv eigentlich umkreist, um ihm buchstäblich verschiedene Seiten abzugewinnen. Der eingehauste Turmstumpf der alten Kirche neben seinen modernen Nachbarn markiert nicht nur ästhetisch einen Bruch, sondern auch im Maßstab. Die Platten der Bauverkleidung ignorieren die übliche Geschosseinteilung. So sieht der temporäre Turmmantel aus wie ein amerikanischer Wolkenkratzer.

Aus solchen Brüchen, im Zusammentreffen von Alt und Neu, von Sakralem und Profanem, Festem und Provisorischem gewinnt Kirchner seine Ästhetik. In solchen Bildern liefert er aber auch Aussagen über die Stadt. Das Phänomen Berlin (wie wohl jeder Großstadt) lebt von seinen Brüchen, erst das Heterogene in ihrer Textur macht die Stadt interessant, sorgt für Überraschung, Entdeckung und vielleicht auch für Einsichten.

■ Galerie im Rathaus Tempelhof, Tempelhofer Damm 165. Bis 9. März

■ Kabinettausstellung mit Aufnahmen aus dem Bezirk Tempelhof-Schöneberg im Tempelhof Museum, Alt-Mariendorf 43. Bis 11. März.

■ Im Nicolai Verlag erschienen ist „Schauplatz Berlin. Der Aufbau der neuen Mitte“. Fotografien von 1987 bis 2011, 128 Seiten, 33 Euro