„Krypto-Konservative“ auf dem Sprung

Bei den Parlamentswahlen können die britischen Liberalen auf ein gutes Ergebnis hoffen. In vielen Punkten haben sie Labour schon links überholt. Damit wollen sie nicht nur bei enttäuschten Blair-Wählern, sondern auch am linken Tory-Rand punkten

AUS LONDON RALF SOTSCHECK

Wenn Politiker Babys küssen, weiß man, dass Wahlen bevorstehen. Charles Kennedy, Chef der britischen Liberalen Demokraten, ist einen Schritt weiter gegangen: Er ist der erste Parteiführer Großbritanniens, der im Wahlkampf Vater geworden ist. Es ist ihm nicht sonderlich gut bekommen. Wegen der Geburt verschob er die Veröffentlichung seines Wahlprogramms um einen Tag, und als er es vorstellte, hatte er vergessen, was drinstand.

Er konnte sich nicht mehr erinnern, wer von der Steuerreform, wie die Liberalen sie vorschlagen, profitieren würde. Er sei so müde, entschuldigte sich Kennedy, weil der Nachwuchs nachts hellwach sei. Ein Parteikollege erklärte, dass die Liberalen die Gemeindesteuer durch eine lokale Einkommensteuer ersetzen wollen. Kritiker wiesen darauf hin, dass dadurch nicht nur ein Viertel der Bevölkerung höher besteuert würde, sondern die Regierung 2,4 Milliarden Pfund im Jahr zuschießen müsste, wodurch sie mehr Einfluss auf die Lokalpolitik bekäme.

Kennedy ist bekannt dafür, dass er sich kaum für die Details seines politischen Programms interessiert. Er wirke wie „ein gut informierter Wähler statt wie ein Politiker“, monierte der Guardian. Er ist unauffälliger als die Parteiführer von Labour und Tories, Tony Blair und Michael Howard, und seine Reden sind weniger aufgeregt. Sein Stil kommt an: Laut Umfragen halten ihn die Wähler für vertrauenswürdiger als Blair und Howard. Aber werden sie ihn auch wählen?

Bei den Buchmachern wird Kennedy mit einer Quote von 100:1 als Premier gehandelt. Nicht zuletzt wegen des ungerechten Wahlsystems, bei dem der Gewinner eines Wahlkreises ins Unterhaus einzieht und alle anderen leer ausgehen, selbst wenn sie nur knapp unterliegen, werden Labour und Tories auch nach diesen Wahlen die nationale Politik dominieren. Die Liberalen können nur in Schottland, wo das Prinzip der proportionalen Repräsentation gilt, und auf Kommunalebene mitreden – dort weit stärker als die Tories.

Das war nicht immer so. Bis 1920 hatte die Liberale Partei die britische Politik mitbestimmt. Sie wurde 1859 als Nachfolgerin der Whigs, der Partei des Großgrundbesitzes, gegründet. Sie setzte sich für die Erweiterung des Wahlrechts, die Abschaffung der Sklaverei, den Kinder- und Arbeiterschutz ein. Nach dem Ersten Weltkrieg kam die Labour Party auf, fortan schafften die Liberalen bei Wahlen kaum mehr als ein Dutzend Parlamentssitze. 1988 schlossen sie sich mit der Sozialdemokratischen Partei, einer rechten Abspaltung der Labour Party, zu den „Liberal Democrats“ zusammen. In den Neunzigerjahren näherten sie sich der Labour Party an. Viele Programmpunkte in Blairs runderneuerter Partei entsprachen ihren eigenen Vorstellungen.

Inzwischen sind die Rollen vertauscht, die Liberalen stehen in vielen Punkten links von Labour. Vieles in ihrem Programm, zum Beispiel die Umverteilung durch Steuererhöhungen für Spitzenverdiener, riecht nach Old Labour. Das hängt Kennedy nicht gerne an die große Glocke. Hinter vorgehaltener Hand geben die Liberalen zu, dass sie der Labour Party von 1997 nacheifern und eine ähnlich breite Begeisterung für ihre Politik entfachen wollen. Aber sie möchten nicht nur enttäuschte Labour-Wähler gewinnen, sondern auch den linken Tory-Rand.

Deshalb ist ihr Programm widersprüchlich. Einerseits sind die Liberalen Demokraten das Gewissen der Labour Party, wenn sie gegen den Irakkrieg, Studiengebühren und Personalausweise eintreten. Andererseits sind sie für striktere Einwanderungskontrolle, für 10.000 neue Polizisten und kostenlose Altenpflege auch für Vermögende. Der Labour-Politiker Peter Hain bezeichnet sie als „Krypto-Konservative“.

Dabei standen die Chancen nie so günstig. Bei den Wahlen 2001 gewannen sie 52 Sitze. Seitdem haben sie zwei Nachwahlen für sich entschieden. Nach dem 5. Mai werden sie noch besser dastehen. Um den Durchbruch mit mindestens hundert Mandaten zu schaffen, müssten sie sich aber für eine Richtung entscheiden. Weder Wahlprogramm noch Parteichef erwecken den Eindruck, dass die Partei an ihren Wahlslogan glaubt. Er lautet: „Die wirkliche Alternative“.