Leben und sterben lassen

In seiner Studie „Die Zukunft der Arten“ benennt der Biologe Joseph H. Reichholf überraschende Feinde der Artenvielfalt: Landwirtschaft, Jäger und – Naturschützer

Reichholffordert Genauigkeit, keine apokalyptische RedeÜberraschung! In Naturschutzgebieten nimmt die Artenvielfalt ab

VON CORD RIECHELMANN

In sich ruhen weder Natur noch Mensch – und die Biologie auch nicht. Dennoch huldigen viele Professoren dieser Wissenschaft einem neuem Forschungspositivismus, dem Reflexion als effizienzhemmend verdächtig ist. Joseph H. Reichholf gehört nicht dazu. Genauso trotzt er der alten angeblichen Gewissheit, dass es der Natur immer schlechter geht, weil der Mensch andauernd böse Sachen tut. Eine generalisierende Unterscheidung zwischen der Natur und dem Menschen akzeptiert Reichholf nicht. Aus einem ebenso schlichten wie einleuchtenden Grund: Natur ohne Menschen gibt es für ihn nicht.

Diese Grundüberzeugung hat weitreichende Konsequenzen. Im Falle Reichholfs betreffen sie zunächst einmal seine Arbeit und ihre Vermittlung als Abteilungsleiter an der Zoologischen Staatssammlung München und als Professor an beiden Münchener Universitäten für Biologie und Naturschutz. Man wird diesem Forscher nicht zu viel unterstellen, wenn man annimmt, dass es ihm mit der akademischen Forschungs- und Lehrtätigkeit nicht genug ist. Es geht ihm darum, der Gesellschaft ein Bewusstsein von seiner Arbeit und der Natur zu geben. Daraus resultiert eine umtriebige Publikationstätigkeit, die keine Angst vor Popularisierungen hat. Ob er erklärt, warum sich der Teichrohrsänger den Kuckuck als Brutparasiten leisten kann, und dabei auch eine Theorie anbietet, warum der Kuckuck überhaupt zum Kuckuck geworden ist, oder ob er als eine Art Stammgast im ZDF-„Nachtstudio“ etwas wirre Kollegen sanft sachlich korrigiert, Reichholfs Äußerungen sind immer ohne Ordinariendünkel, angenehm nachvollziehbar gerade für biologische Laien. Wer will, kann seinen Gestus demokratisch nennen.

Das heißt aber nicht, dass er beliebig oder unentschieden einem falsch verstandenen Pluralismus huldigt. Reichholf ist, wie ein Rezensent in der Süddeutschen Zeitung schrieb, ein „militanter Ökologe“. Das folgt aus seiner Arbeitsweise.

Er hat nie mit einem Empirismus gebrochen, der aus den Daten zum Begriff schreitet. Und an die Erhebung von Daten stellt er Ansprüche, die mit dem erwähnten Effizienzdenken, das nicht nur das Universitätsstudium, sondern auch die Dauer von wissenschaftlichen Untersuchungen weltmarkttauglich, das heißt schnell und kurz machen will, nicht in Einklang zu bringen sind. Vor ein paar Jahren geisterte die Äußerung des Arbeitgeberfunktionärs Hundt durch die Presse, dass man endlich aufhören müsse, in den Schulen die Lernzeit der Schüler mit dem Studium von Regenwürmern zu verschwenden, weil das die Kleinen nicht für den Weltmarkt fit mache. Diese Intervention kann man als den Gegenpol von Reichholfs Ansinnen betrachten.

In seinem gerade erschienenen Buch „Die Zukunft der Arten. Neue ökologische Überraschungen“ nimmt Reichholf Herrn Hundt – ohne sich auf ihn zu beziehen – den Grund seiner Sorge. „Kinder und Jugendliche“, schreibt Reichholf, „dürfen keine Insekten mehr sammeln, weil alle Arten, die schön und interessant aussehen, unter Schutz stehen. So wird ihnen auch im Biologieunterricht kaum noch etwas Lebendiges gezeigt, weil die Fachlehrer nicht mehr wissen, was sie noch ohne besondere (und langwierige) Genehmigung zeigen dürfen.“ Mit Regenwürmern hält man sich an Schulen in der Regel schon lange nicht mehr auf, und das zeitigt Wirkungen. In einer vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Auftrag gegebenen Studie zum Umweltbewusstsein in Deutschland 2004 wird ein eklatanter Abfall in der Bewertung der Wichtigkeit von Naturschutzfragen in den beiden Altersgruppen unter 20 und von 20 bis 24 Jahren festgestellt. Wer zudem einmal auf irgendeiner Insektenforschertagung war und etwas über 40 Jahre alt ist, kann die sonst in dem Alter ungewohnte Erfahrung machen, dort der Jüngste zu sein. Ein Schwinden des Interesses an Naturschutzthemen ist unübersehbar geworden. Reichholfs Ursachenanalyse weicht aber von den gängigen Klagen darüber ab; er gibt den Naturschutzverbänden und der durch sie beeinflussten Politik durchaus eine Mitschuld an dem Phänomen.

„Die Zukunft der Arten“ ist auch eine radikale Kritik an der Praxis des Naturschutzes. Schon im Untertitel als Fortsetzung seiner 1993 erschienenen Aufsatzsammlung „Comeback der Biber. Ökologische Überraschungen“ zu erkennen, werden in der aktuelle Studie begriffliche Radikalisierungen deutlich. Hatte Reichholf 1993 noch Begriffe wie Ökosystem, ökologisches Gleichgewicht und ökologische Nische und ihre Definitionen dargestellt und mit der Wirklichkeit konfrontiert, schreibt er sie jetzt nur noch in Anführungszeichen. Dass er damit ihre Wirksamkeit und Gültigkeit bestreitet, ist klar. Aber was setzt er an ihre Stelle?

Platt gesagt: Empirie, also Arbeit vor Ort, und Genauigkeit. Genauigkeit vor allem auch, wenn es darum geht festzustellen, was gerade in der Natur geschieht. Gegen die Rede von „Tausenden Jahr für Jahr aussterbenden Arten“, wie sie international tätige Naturschutzverbände verkünden, wendet Reichholf ein, dass sich allerdings keine einzige dieser ausgestorbenen Arten benennen ließ und auch kein wirklicher Nachweis des Aussterbens erbracht werden konnte. Reichholf: „Die Rate des Aussterbens sank Ende der 1990er Jahre praktisch auf null.“ Trotzdem stimme es natürlich, wenn zum Beispiel in Bayern zahlreiche Arten als „ausgestorben oder verschollen“ bezeichnet werden. Nur gibt Reichholf zu bedenken, dass „das tatsächliche Verschwinden von Tieren oder Pflanzen in einem bestimmten, (politisch) abgegrenzten Gebiet etwas anderes ist als das wirkliche, endgültige Aussterben“. Dafür führt er viele Beispiele an wie das Birkhuhn, das in Deutschland unmittelbar vom Aussterben bedroht, als Art in seinem weiten Verbreitungsgebiet aber keineswegs gefährdet ist. Regionale Gefährdung und großräumige Sicherheit bilden für Reichholf keine Widersprüche, sie gehören zusammen. Nur aus der Betrachtung beider „Areale“ lässt sich ablesen, ob eine Art tatsächlich gefährdet ist.

Dass man aus dieser Feststellung keine Ablehnung regionaler Untersuchungen ableiten sollte, kann man schon aus den Gegenständen der Studie „Die Zukunft der Arten“ ablesen. Fast alle Beispiele kommen aus Bayern, was in diesem Fall kein Lokalpatriotismus, sondern schlicht den Daten geschuldet ist, denn in Bayern kennt sich Reichholf aus. Seiner Argumentation liegt auch keine Beschönigung der Verhältnisse zu Grunde, er wehrt sich nur gegen eine alarmistische Rhetorik ohne genaue Untersuchung. Selbstverständlich ist dem Artenkenner Reichholf der massive Artenschwund in den bayerischen Kulturlandschaften nicht entgangen, er fügt dieser Erkenntnis nur eine Pointe hinzu: In den Naturschutzgebieten sieht es nicht anders aus. Und das hängt mit einem verengten Naturbegriff zusammen.

Die vielen kleinen menschlichen Nutzungseingriffe in den Naturschutzgebieten, die man als „Störungen“ betrachtet, zu unterbinden bringt genau das Gegenteil von Förderung der Artenvielfalt und Schutz seltener Arten hervor. „Seit keine kleinen Abgrabungen und solche mittlerer Größe mehr gemacht werden können, keine Kleingewässer in der Landschaft entstehen, kein Abflammen von Böschungen und Triften mehr erlaubt und Kahlschläge verdammt sind, fehlt es an jungen Stadien von Entwicklungen, mangelt es an Stellen ohne intensive landwirtschaftliche Nutzung und wächst alles zu, was nicht direkt in Nutzungen einbezogen ist“, schreibt Reichholf. Es gibt nämlich über die Jahre in solchen Gebieten, die der menschlichen Nutzung entzogen worden sind, eine Entwicklung der Artenvielfalt, die dem Ziel der Erhaltung der Vielfalt zuwiderläuft. In den ersten Jahren nimmt die Artenvielfalt in solchen „unberührten“ Gegenden zu. Nach etwa 70 Jahren sinkt sie aber unter den Ausgangswert zu Nutzungszeiten ab.

Solche Naturschutzgebiete reduzieren also Artenvielfalt, lautet Reichholfs Schlussfolgerung. Nach der modernen Landwirtschaft, die durch Überdüngung, Strukturverarmung und Vereinheitlichung der Lebensbedingungen den mit Abstand größten Einfluss auf den Artenschwund hat, entfällt der zweitgrößte Teil der „Artenrückgänge auf die Umsetzung von Naturschutzzielen“. Polemisch kann man Reichholf so zusammenfassen: Es sind nicht die Nackten und Badenden oder die Paddler auf der Isar, die die Artenvielfalt gefährden; es sind diejenigen, die Badende aus der Natur heraushalten wollen, die die Arten vertreiben.

Mit den Landwirten und Naturschützern sind aber noch nicht alle Artenvielfaltsfeinde benannt. Es kommen noch die Jäger hinzu. Für deren Treiben zitiert Reichholf eine finstere Studie. Im Saarland hat man sechs Jahre lang in einem 700 Hektar großen Revier alle so genannten Beutegreifer zum Totalabschuss freigegeben; man wollte untersuchen, ob der behauptete Zusammenhang der schwindenden Hasen und Fasane mit der Häufigkeit ihrer Fressfeinde zusammenhängt. Man ballerte also Krähen, Elstern und Füchse hemmungslos ab, mit dem Ergebnis, dass die Hasen trotzdem nicht mehr wurden.

Auch wenn es vielleicht bis hierher etwas düster klingt, finster ist das Buch nicht. Es enthält eine Fülle von Beispielen, wie Tiere trotz der erwähnten Widrigkeiten ihr Überleben meistern. Es ist ohne moralisierende Drohgeste geschrieben, und Reichholf macht Vorschläge. Viele und gut begründete.

Joseph H. Reichholf, „Die Zukunft der Arten. Neue ökologische Überraschungen“. C. H. Beck, München 2005. 237 Seiten, 19,90 €