: Vom pfiffigen zum gefährdeten Kind
KINDERTHEATER Bühnenstücke für unter Dreijährige halten manche Experten für sinnlos. Trotzdem steigt das Angebot – dahinter steht oft der Wunsch, auf Teufel komm raus Bildung zu vermitteln
Ingrid Hentschel, Theaterwissenschaftlerin
VON JOACHIM GÖRES
„Tür auf Tür zu, ein Stück für Kinder ab 1,5 Jahre“ – so steht es auf dem Programm des ältesten niedersächsischen Kindertheaterfestivals, das gerade in Hildesheim zu Ende gegangen ist. Viele kleine Kinder sitzen mit Erzieherinnen oder ihren Eltern im Publikum und beobachten Nöck Gebhardt-Seele auf der Bühne. Der Schauspieler redet wenig (es bleibt meistens bei Satzfetzen wie „aha, soso, soo groß, riesig“) und agiert dafür umso mehr. Er zeichnet einen Hubschrauber auf ein Brett, befestigt daran ein kleines Päckchen, und unter dem eingespielten Rattern der Rotorenblätter hebt sich das imaginäre Fluggerät in die Lüfte, über die Köpfe der Zuschauer hinweg – und zur Überraschung aller taucht plötzlich ein viel größeres Paket in dem Haus hinter der blauen Tür auf.
Die Mädchen und Jungen, die ganzen 40 Minuten voll bei der Sache, staunen. Einige haben ihre Hand im Mund, manches Kind hält sich die Ohren beim lauten Hubschraubergeräusch zu, andere lachen.
„Ich erwarte nicht, dass sie stillsitzen, sondern das ich ihre Aufmerksamkeit gewinnen muss. Deswegen bin ich immer wieder überrascht, wie unglaublich konzentriert die Kleinen von Anfang an dabei sind“, sagt Gebhardt-Seele. An den Wochenenden sind die 80 Plätze in seinem Braunschweiger Theater Fadenschein mit Kleinkindern und ihren (Groß-)Eltern immer gut besetzt.
„Theaterstücke für unter Dreijährige sind eine Welle, die in ganz Europa unterwegs ist. Ich habe erst gedacht, dass Kinder in diesem Alter zu Hause besser als im Theater aufgehoben sind, doch warum sollten Zweijährige weniger Recht auf Kultur als Erwachsene haben?“, fragt Gebhardt-Seele. Ole Hruschka, der an der Universität Hannover Darstellendes Spiel lehrt, ist dagegen skeptisch: Mit eineinhalb Jahren könnten Kinder „nicht zwischen Fiktion und Realität unterscheiden“, sagt er.
Dennoch ist auch im Hamburger Theater am Strom der Zuspruch von Eltern mit ihren kleinen Kindern groß. Zum Repertoire gehört „Die Sterne von San Lorenzo“ für Kinder ab zwei Jahren. Vor allem mit Musik und unterschiedlichen Klängen werden den Jüngsten die vier Elemente in diesem Stück nähergebracht. Theaterleiterin Christiane Richers setzt auf weniger Dynamik, lässt langsamer spielen, wiederholt viel und hält Distanz, um die Mädchen und Jungen nicht zu verschrecken. „Man muss sich überlegen, was es für ein zweijähriges Kind bedeutet, wenn es einen dunklen Raum betritt. Von dem ersten Eindruck kann es schon abhängen, ob die Aufführung gelingt oder ob alles voll daneben geht“, sagt sie.
„Gerade gut ausgebildete Eltern beginnen immer früher damit, ihren Nachwuchs mit einer Vielzahl von Bildungsangeboten zu fördern, auch zu überfordern, und das Theater ist von dieser Entwicklung nicht ausgenommen“, sagt Ingrid Hentschel, Professorin für Theaterwissenschaft an der FH Bielefeld. Sie hat vor 25 Jahren ihre Dissertation über das Kindertheater geschrieben und verfolgt bis heute die Entwicklung. Dabei stellt sie große Unterschiede fest: „Anfang der 70er-Jahre galten Kinder als unterdrückt. Das Kindertheater sah seine Aufgabe darin, sich dagegen zu wehren, den Mut und Widerstandsgeist zu stärken. Auf der Bühne wurden pfiffige Kinder gezeigt, die den Erwachsenen gegenüber überlegen sind und ihnen auf die Sprünge helfen.“
Auch heute verfolge das Kindertheater einen bestimmten Zweck – seit dem Beginn der Pisa-Diskussion solle auf der Bühne immer häufiger Bildung vermittelt werden. Vor allem das Präventionstheater habe Konjunktur. „Es gibt heute massenhaft Stücke, in denen es um Fettleibigkeit, sexuellen Missbrauch, Drogen, Trauer und Verlust, Scheidung und Mülltrennung geht“, so Hentschel. Sie wünscht sich ein Kindertheater, das nicht für bestimmte Zwecke eingespannt wird, sondern frei von pädagogischen Zielen ist. „Wichtig ist, sich klarzumachen, dass die heutige Tendenz im Kindertheater nicht Ausdruck einer veränderten Kinderrealität, sondern Ausdruck der Lebensangst der Erwachsenen ist.“ Im Mittelpunkt stehe daher das „gefährdete Kind“.
Was haben Kinder überhaupt davon, ins Theater zu gehen? Laut Hentschel lernen Kinder im Theater, „wie man Zeichen und Symbole entschlüsseln kann“. So werde das Einfühlen in andere Personen gefördert. Und – was sehr wichtig sei – die Kinder merkten, dass sie mit ihren Gefühlen, die sie oft nicht artikulieren können, nicht alleine dastünden. Es gebe Menschen gibt, die sie verstehen.
Angesichts eines oft betagten Stammpublikums sind die Theater letztlich auch aus Eigeninteresse am Nachwuchs interessiert – kein Theater mehr ohne Theaterpädagogen. In Hannover hat kürzlich sogar ein eigenes Kindertheaterhaus seinen Betrieb aufgenommen.