: Sie laufen immer noch
In ganz Brandenburg gehen jeden Montag BürgerInnen gegen Hartz IV auf die Straße – und es werden wieder mehr. Jetzt wollen sich die vielen Gruppen und Organisationen erstmals vernetzen
VON BEATE SELDERS
„Jeden Montag bis zur Rücknahme dieser schlechten und falschen Politik wollen wir auf die Straße gehen“, heißt es im Kyritzer Appell des Aktionsbündnisses gegen Hartz IV und Sozialabbau – und so haben sie es bis jetzt gehalten. Und nicht nur in Kyritz. Auch in Angermünde, Schwedt, Jüterbog, Templin, Eberswalde, Eisenhüttenstadt, Senftenberg, Königs Wusterhausen, in Wittenberge und Wittstock. Man zählt die 30. oder 35. Montagsdemonstration. Mancherorts wurde sie zur Kundgebung abgespeckt oder nur noch 14-tägig getaktet.
So lange durchhalten kann man nur mit Fantasie. In Jüterbog gibt es einen Dichter, der jede Demo mit Reimen versorgt, und die Gruppe der „Überflüssigen“ mit ihren spektakulären Aktionen. Es gibt Performances und Straßentheater und gelegentlich auch Prominenz. Jede Veranstaltung ist ein Happening. Ende letzten Jahres wurden Weihnachtsbäume mit Protestpäckchen geschmückt, im Januar politische Büttenreden gehalten, später auf Straßenkreuzungen gepicknickt und zum 1. Mai wurde der Montag auf den Sonntag vorverlegt und als Kampftag ausgerufen – in manchen Orten zum ersten Mal seit der Wende.
Die Montagsdemonstrationen sind zu einer Mischung aus Protest, Informationsveranstaltung, Sozialtherapie und gelebter Basisdemokratie geworden. Immer noch gibt es das offene Mikrofon, an dem jeder sprechen kann. „In der Presse steht, dass es nichts bringt, was wir machen. Aber es bringt sehr viel“, sagt Kerstin Weidner, Sprecherin der Aktionsgruppe gegen soziales Unrecht Senftenberg. „Viele haben wieder gelernt zu reden, sich zu vertreten. Die Erfahrungen mit den Montagsdemonstrationen sind auch etwas Soziales. Die Leute kommen raus aus der Isolation.“
Das Spektrum ist breit, aber inzwischen deutlich abgegrenzt gegen rechte Vereinnahmung. Wenn Rechte reden wollen, wird notfalls das Mikrofon abgestellt, das ist Konsens. Die Teilnehmerzahlen schwanken zwischen 30 und 200. In Wittenberge geht man auch noch mit 20 Leuten auf die Straße: ein skurriler Anblick, wenn sich die kleine Gruppe in Redner und Demonstranten aufteilt.
In der Nachbarstadt Perleberg finden keine Montagsdemos mehr statt, aber das Bündnis für Arbeit und soziale Gerechtigkeit ist nach wie vor aktiv. Unter anderem, weil die Enttäuschung über die Gewerkschaften so groß ist. Aus den Protesten gegen Hartz IV haben sie sich bis auf einzelne Mitglieder völlig zurückgezogen. Deswegen verfassten die Perleberger Protestschreiben. „Wir wollen den DGB-Chef Sommer mal daran erinnern, dass er Arbeitnehmerinteressen vertritt. Er vergisst das manchmal“, sagt Jürgen Hennig. Er leitet das Ortsbüro der PDS und ist Vorstandsmitglied im Perleberger Bündnis.
Ebenfalls im Vorstand sitzt Georg Emmermann, Unternehmer und aktives CDU-Mitglied. Diese überraschende Konstellation ist eine der vielen lokalen Besonderheiten, die die Proteste gegen Hartz IV auszeichnen. In Angermünde ist es eine einzelne Privatperson, Birgit Kühr, die als Betroffene ohne organisatorischen Hintergrund und politische Erfahrung die Montagsdemonstrationen startete und inzwischen seit über 35 Wochen als Veranstalterin auftritt. In Eisenhüttenstadt sind neben dem Obdachlosenverband unter anderem die Marxisten-Leninisten von der MLPD mit im Bündnis Aktion Montagsdemo aktiv. In Königs Wusterhausen gibt es ein Sozialforum mit Attac- und Antifa-Beteiligung. In Wittstock und Senftenberg wiederum legt man Wert darauf, ein völlig unabhängiger Zusammenschluss von Betroffenen und anderen BürgerInnen zu sein.
In Kyritz ist aus den Montagsdemos eine große Solidargemeinschaft entstanden, eine Art „Volksheilarmee“, meint Dieter Groß, der Sprecher des Kyritzer Bündnisses. Einen Widerspruch zwischen der Ablehnung von Hartz IV und Befriedung durch Beratung und Unterstützung der Betroffenen sieht er nicht. „Die Leute haben keine Lobby. Da gibt es so viel Ausweglosigkeit, soziale Verarmung und totalen Frust. Wir sind da, um die Leute zu begleiten. Zudem begleiten sie sich gegenseitig. Sie sind ja selbst betroffen.“ Durch diese aus der Not geborene Verbindung von sozialer und politischer Arbeit sind zivilgesellschaftliche Strukturen entstanden, die weit über den ursprünglichen Anlass hinaus wirken – und das nicht nur in Kyritz.
Einen vollständigen Überblick über Montagsaktivitäten und daraus entstandene Aktionsgruppen in Brandenburg hat zurzeit niemand. Berichte finden sich allenfalls in den Lokalteilen der Zeitungen, die Vernetzung zwischen den Städten hat gerade erst begonnen. Anfang April fand in Templin erstmals ein Treffen der Aktionsbündnisse statt, an dem neun Gruppen teilnahmen plus Aktivisten aus Berlin und Leipzig als Gäste.
„Was sich da getan hat, war eine Geburtsstunde“, begeistert sich Ralf Schulz, Vorsitzender des Sozialforums von Königs Wusterhausen. Dass sich aus den Montagsdemos eine Massenbewegung entwickeln könnte, glaubt er aber schon lange nicht mehr. Dennoch kommen wieder mehr Leute, wird überall festgestellt. Aktionsgruppen wie auch die Demonstrationen haben Zulauf. „Zwischendrin haben wir mal gedacht, das bringt nichts mehr“, meint Kerstin Weidner, „aber jetzt geht es wieder los.“