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Archiv-Artikel

Die Grenzüberschreitung

HANDLUNGSSTRÄNGE Aufräumarbeiten nach der Vernichtung im breiten Strom der Sprache: der gewaltige Roman „Parallelgeschichten“ von Péter Nádas

Die Methode Nádas

■ Mit leiser Stimme stellt Péter Nádas große Fragen. Zum Beispiel, was die Aufgabe des Autors ist und ob dieser überhaupt eine Aufgabe habe. Außerdem fragt er sich, ob es darum geht, die Welt zu erklären, und was das mit Schönheit zu tun haben könnte.

■ Der hohe Anspruch seiner Überlegungen ist kennzeichnend für den 1942 in Budapest geborenen Schriftsteller. Nicht umsonst zirkuliert sein Name, wenn es darum geht, wer den nächsten Nobelpreis für Literatur bekommen sollte. Für sein 1985 erschienenes „Buch der Erinnerung“ bekam er unter anderem den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung.

■ Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat sein Leben geprägt. Er wurde im Zweiten Weltkrieg geboren, den er häufig in seinen Büchern thematisiert. In Ungarn verhinderte die parteikommunistische Zensur jahrelang die Veröffentlichung seines ersten Buches „Ende eines Familienromans“, das letztendlich 1977 erschien.

■ Nádas lebt mit seiner Frau, der Journalistin Magda Salamon, in der Abgeschiedenheit des ungarischen Dorfes Gombosszeg. Ursprünglich war das Dorf ein Zufluchtsort vor dem kommunistischen Regime, jetzt bietet es Nádas die Ruhe, in der er 18 Jahre lang an „Parallelgeschichten“ schreiben konnte.

■ Von dieser Einsamkeit aus analysiert Nádas die europäische Kultur. Der Individualismus hat ihm zufolge seine beste Zeit hinter sich. Auch kritisiert er die wirtschaftlichen Interessen, die uns leiten. Doch hinter diesen Aussagen verbirgt sich kein Pessimist. Das verrät die ruhige und heitere Stimme des Autors, der zum Liebling derselben Kultur geworden ist. (jvb)

VON JÖRG MAGENAU

Ein Roman, sagte der Schriftsteller Péter Nádas einmal, sei eine höchst gewöhnliche Sache: „Er stapft in Erfahrung herum.“ Bezogen auf dieses gigantische Werk, an dem er 18 Jahre arbeitete und das in der kongenialen Übersetzung von Christina Viragh 1.724 Seiten umfasst, ist das eine maßlose Untertreibung.

Beim bloßen Herumstapfen – womöglich mit Gummistiefeln im Uferschlamm? – würde man kaum so lange und so fasziniert zuschauen wollen. Vielmehr handelt es sich um einen breiten Strom aus Sprache, der unterschiedlichste Erfahrungen aufzunehmen vermag. Weil die Sprache tragende Kraft entwickelt, kann man sich diesem Strom anvertrauen, auch wenn nicht abzusehen ist, wohin das führen wird.

Flüssen, allen voran der Donau, kommt eine große Bedeutung zu. Ein eindrucksvolles Kapitel (aber eigentlich sind alle Kapitel in der stimmungstiefen Genauigkeit der Beschreibungen eindrucksvoll) handelt davon, wie zwei Freunde in der Nähe des südungarischen Mohács bei einsetzender Dunkelheit durch den Fluss und wieder zurück schwimmen, wie sie von der Strömung weit abgetrieben werden, sich verlieren, mit ihren Kräften fast am Ende sind, dann, während sie nackt am Ufer zurückgehen, den Ausgangspunkt und ihre Kleider nicht mehr wiederfinden.

So ähnlich funktioniert auch der Lesevorgang. Die Szene ereignet sich im Jahr 1938. Mehr als zwei Jahrzehnte später, am 15. März 1961, dem ungarischen Nationalfeiertag, erinnert sich einer von ihnen, der Schiffskapitän Bellardi, inzwischen Taxifahrer in Budapest, an diese Nacht zurück und begreift, dass es vielleicht der glücklichste Augenblick seines Lebens gewesen ist.

Auf der anderen Seite der Ereignisse spielt der Rhein eine Rolle und die niederrheinische Landschaft an der holländischen Grenze. Im Jahr 1989 verhört dort ein Polizeikommissar einen jungen Mann, der im Berliner Tiergarten eine Leiche entdeckt hat und sich nun schuldig fühlt. Im Jahr 1945 war in dieser Gegend ein KZ, dessen Aufseher denselben Nachnamen hat wie der etwas verwirrte junge Mann: Döring. Auch davon wird erzählt, und wie bei Kriegsende die Leichen der Ermordeten in den Gräben zwischen den Feldern verbrannt wurden. Aufräumarbeiten nach der Vernichtung: „Die brennbare menschliche Gallerte floss in den Gräben zusammen, Fett und Knochenmark sammelten sich in feinen Schichten, je nach spezifischem Gewicht.“ In der Geschichte fließt nicht nur Wasser.

Damit sind die wichtigsten Koordinaten gesetzt: Budapest und Berlin, die Kleinstadt Mohács und Pfeilen am Niederrhein. Zu erwähnen ist außerdem noch ein Internat im Erzgebirge, in dem die Nazis rassekundliche Forschungen an den Knaben betreiben. Die Erzählpunkte in der Zeit umspannen mit 1938 und 1945 den Zweiten Weltkrieg, mit 1961 und 1989 die Zeit von kurz vor bis kurz nach der Berliner Mauer. Dazwischen liegt 1956, das Jahr der brutalen Niederschlagung des ungarischen Aufstands durch die Rote Armee, ein Ereignis, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Da sitzen Leute im Luftschutzkeller, als wäre der Zweite Weltkrieg noch in vollem Gang.

Aus all dem ergibt sich bei Nádas keine Chronologie, keine einfache Abfolge mit kausalen Verknüpfungen, sondern ein komplexes Geflecht von lockeren Bezügen und subkutanen Berührungspunkten. Er nimmt die Fäden auf und lässt sie wieder liegen, ohne sie zwanghaft miteinander verknüpfen zu müssen oder sie an ein Ende zu führen, wie es die literarische Konvention verlangen würde. Die Zeit läuft bei ihm nicht ab, sie staut sich an. Nádas variiert die Fließgeschwindigkeit und damit den Rhythmus des Erzählens.

In der Nahsicht sind Großaufnahmen möglich. Die Gegenwart ist ins Endlose gedehnt und dadurch voller Spannungen. Die vergangenen Ereignisse sind in den folgenden Generationen präsent, in ihren Irrtümern, Ängsten und Hoffnungen, in ihren Körpern. Diese Spuren macht Nádas sichtbar, nicht indem er sie benennt und isoliert wie ein Wissenschaftler, sondern indem er sie so zeigt, wie die Romanfiguren sie erleben, egal, ob sie etwas davon begreifen oder nicht. Es gibt keinen allwissenden Erzähler, der wie ein Feldherr den Überblick über das Geschehen hätte. Der Erzähler ist mit seinen Figuren in die Geschichte verstrickt.

Im Mittelpunkt steht die Familie Lippay-Lehr, die in einem repräsentativen Haus in Budapest lebt. Professor Lehr, der einst als Nationalist den faschistischen Pfeilkreuzlern nahestand und dann bei den Kommunisten Karriere machte, liegt an diesem Tag im Jahr 1961 im Krankenhaus im Sterben. Nachdem das Telefon lange vergeblich klingelte, bricht seine jüdische Frau Erna mit Gyöngyver, der vor allem an Sex interessierten Freundin des dubiosen, schön-schwermütig und aggressiven Sohnes Ágost, zu ihm auf. Kristóf, Neffe und Ziehsohn, der von der Mutter verlassen und dessen Vater deportiert wurde, steht stumm am Fenster.

Von dieser Szene aus entwickelt Nádas die Figuren, taucht ein in ihre Erinnerungen und öffnet das Universum seines erzählerischen Kosmos. Vier ältere Damen, die sich allabendlich zum Bridge treffen, unter ihnen eine Musiklehrerin, eine Psychoanalytikerin und eine Holocaustüberlebende, bilden einen weiteren Kristallisationspunkt in Budapest. Es geht um Liebe und Verlassenheit, um Mord und Selbstmord, Beharrlichkeit und Verletzlichkeit. Überall Stoffe, Geschichten, die erzählt werden müssen.

Parallel dazu – aber parallel ist nicht das richtige Wort, wenn es keine Kontinuität der Zeit mehr gibt – entsteht ein geradezu friedfertiges sonntägliches Bild von der Arbeit des rassehygienischen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie 1938 in Berlin-Dahlem. Dessen Chef von der Schuer ist dem realen Otmar Freiherr von Verschuer nachempfunden, einem Lehrer Josef Mengeles. Baronin von Thum zu Wolkenstein ist dort mit der Sektion von Augenpaaren von Zwillingen beschäftigt; jetzt sitzen alle bei von der Schuer zu Tisch, auch eine ungarische Gräfin, die mit dem Hausherrn auf peinliche Weise zu flirten beginnt. Ein illegitimer Sohn der Baronin lebt im Internat im Erzgebirge; von dort aus gibt es eine Verbindungslinie zum Budapester Handlungsstrang im Jahr 1961.

Sexszene von 100 Seiten

Nádas lässt die Handlungserwartung immer wieder ins Leere laufen. Seine Geschichten haben keinen Anfang und kein Ende. Sie sind sehr viel grundsätzlicher realistisch, als der sogenannte Realismus jemals Wirklichkeit abgebildet hat. Es geht dabei weniger um das Vorantreiben der Ereignisse als darum, Stoffe zu entfalten.

Geradezu sinnbildlich dafür ist die Szene, in der der junge Döring in ein Berliner Dessousgeschäft gerät und dort trotz seiner Scham einen extraaparten Slip erwirbt, dessen stoffliche Beschaffenheit die Verkäuferin mit Worten rühmt, die dem Genital und seiner optimalen Präsentation beklemmend nahe rücken. Im „Zauberspiegel“ in der Umkleidekabine sieht er seine Gestalt verzerrt. Das Spiegelbild vergrößert den Lendenbereich. Wenn es in diesem Buch eine Zentralperspektive gibt, dann ist sie hier zu finden.

Mit der Leiche im Tiergarten setzt das Buch ein. Doch wer deshalb einen Kriminalroman erwartet, wird enttäuscht: Die Identität des Toten bleibt auch nach 1.724 Seiten ungeklärt, ja, schlimmer noch, er spielt überhaupt erst nach mehr als 1.000 Seiten wieder eine Rolle. Der Kommissar macht seinem Metier als Schnüffler alle Ehre. Am Genital des Toten erschnüffelt er einen speziellen Parfümduft.

Das könnte eine Spur sein, ist aber eher eine Leseanleitung. Ohne Spürnase ist man im Kosmos dieser Geschichten verloren, gerade weil die ausgelegten Spuren nicht weiterverfolgt werden. Die auftretenden Gerüche sind nicht immer angenehm: Modergeruch. Leichengeruch. Nach Teer riechender Männerschweiß im Pissoir auf der Margareteninsel, wo sich nachts die Schwulen treffen. Der junge Kristóf, der einzige Ich-Erzähler im ganzen Buch, erlebt dort seine tragische, erschütternde Initiation. Später folgt er der Barkeeperin Klára, die jedoch mit einem proletarisch kraftvollen Mann zusammenlebt. Liebe ist Kampf, bei dem das eigene, unbestimmte Ich zur Debatte steht.

Zu riechen ist auch der Sexdunst von Mann und Frau – Ágost und Gyöngyver, die es tage- und nächtelang auf einem quietschenden Sofa miteinander treiben –, so wie die Zimmerwirtin ihn wahrnimmt, als sie die Tür öffnet und schnüffelnd ins Dunkel starrt, gerade als die beiden im Bett den Orgasmus nicht noch länger hinauszögern wollen. Die Sexszene umfasst mehr als hundert Seiten. Es ist vermutlich der längste Fick der Literaturgeschichte. Kein Härchen, kein Spermatropfen, keine Vorhautfalte, kein Muskelzucken bleibt dabei unerwähnt.

Dass Nádas in England damit auf der Shortlist eines „Bad Sex Award“ landete, ist ungerecht und dumm. Die Sprache zeigt ohne Vorbehalt, dass Sex bei aller Lust eben auch lächerlich, ekelhaft und schmerzhaft ist und dass die Verschmelzung der Körper regelmäßig ihr Ziel verfehlt: die Seele oder die Liebe oder was auch immer.

Auch das könnte eine Parallelgeschichte sein. Sex bietet das persönlichste, individuellste Erleben und ist doch die größte denkbare gattungsmäßige Allgemeinheit. Nádas interessiert sich für die Grenzüberschreitung des Ich, besonders für Homosexualität als Tabuverletzung der bürgerlichen Normen. Kristófs aufwühlenden Erlebnissen im Stadtpark ist die Geschichte von Kapitän Bellardi und dem Architekten Mazdar entgegenzusetzen, einer homoerotischen Liebe, die nur augenblicksweise als Verborgenes zum Vorschein kommt. Es gibt auch eine wollüstige lesbische Liebesszene, als irritierende Erinnerung von Erna Lippay-Lehr während der Taxifahrt ins Krankenhaus.

„Der Roman ist dazu da, etwas sinnlich fassbar zu machen“, sagt Nádas. Im Zentrum der Sinnlichkeit steht der Körper, das ist klar. Dass sich Geschichte im Körper und durch ihn hindurch ereignet, ist im Grunde eine Banalität. Es gibt eben keine Historie als Parallelgeschichte irgendwo da draußen, sondern in jedem Augenblick die Einheit von Körper, Seele und Universum.

Eben das möchte Nádas erzählen. Seine Prosa macht jeden einzelnen Augenblick mit kühler Präzision transparent, füllt ihn mit Transzendenz, mit Erinnerungen, Fantasien und all dem Ungeschehenen, das auch zur Geschichte gehört. So wird jeder Moment tendenziell unendlich. 1.724 Seiten sind dafür nicht viel.

Sprachlose Textstruktur

Kriminalroman, historischer Roman, Holocaustgeschichte, ungarische Geschichte, Familienroman, Adoleszenzroman, Liebesroman, pornografischer Roman, Auseinandersetzung mit dem Kommunismus: All das sind die „Parallelgeschichten“ und sind es nicht, weil sie viel mehr sind. Realismus und Postmoderne, Konstruktion und Dekonstruktion sind darin aufgehoben. Die voneinander unabhängigen und doch zusammengehörenden Geschichten treten miteinander in Beziehung „mittels einer Struktur, die ihr Vorbild in nichts anderem als dem Chaos hat“, schreibt Nádas im Begleitbuch zu den „Parallelgeschichten“.

Im leeren Raum – und nichts anderes bedeutet „Chaos“ – steht auch die Frage, was eine Geschichte überhaupt ist. „Mir ist die sprachlose poetische Struktur des Textes mit den Jahren wichtiger geworden als Helden und Handlungen“, sagt Nádas und präzisiert diese Auffassung durch den Vergleich mit modernen Naturwissenschaften, wo ja auch „die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen wichtiger erscheinen als die Elemente selbst. Weil die Welt anscheinend nicht auf Materie beruht, sondern auf Konstruktionsprinzipien, die die verschiedenen stofflichen Elemente miteinander in Verbindung bringen.“

Was das für das Erzählen bedeutet, für die Darstellung von Leben, Körperlichkeit, Geschichte und Bewusstsein und das, was wir der Einfachheit halber als „ich“ bezeichnen, führen die „Parallelgeschichten“ vor. Man kann mit diesem Buch unmöglich fertig werden.

 Péter Nádas: „Parallelgeschichten“. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt, Reinbek 2012, 1.724 Seiten, 39,95 Euro