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Die Kälte zieht unsan

Leise rieselt’s im Film. „Herz aus Eis“ von der Regisseurin Lucile Hadžihalilović wirft die Frage auf, was Schnee und weitere weiße Pracht im Kino bedeuten

Film im Film: In „Herz aus Eis“ von Lucile Hadžihalilović spielt Marion Cotillard die Schauspielerin Cristina, die als Hauptdarstellerin am Dreh des Films „Die Schneekönigin“ arbeitet Foto: Grandfilm

Von Jenni Zylka

In der Sprache, die nicht mehr meine ist“, so beginnt 1992 Peter Høegs Roman „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“, „heißt der Schnee qanik, er schichtet sich zu Stapeln, fällt in großen, fast schwerelosen Kristallen und bedeckt die Erde mit einer Schicht aus pulverisiertem, weißem Frost.“

Schnee und Eis haben bei Høeg nichts mit dekorativ-winterlicher Weihnachtsstimmung zu tun. Stattdessen präsentiert dieser Satz die Kernthemen, durch die sich Heldin Smilla Jaspersen auf den folgenden 516 Seiten wie durch einen Schneesturm kämpft: Es geht um Identität, um den Verlust der eigenen Wurzeln – und um Kälte, thermische wie menschliche.

Smilla, die unverwüstliche Wissenschaftlerin, deren verstorbene Inuit-Mutter ihr die besondere Gabe des Schnee-Lesens vererbte, und deren dänischer Vater sie zwar liebt, aber nicht versteht, erkennt in den Spuren des angeblich vom Dach gestürzten Nachbarsjungen einen Mord – und wandert, um ihn aufzuklären und einen ominösen Meteoriten ausfindig zu machen, in ihre ehemalige Heimat, das ewige Eis.

Sie konnte das, egal zu welcher Jahreszeit – der Schnee war damals noch vorhanden. Selbstverständlich und seit Menschengedenken bedeckte er die Arktis und die Antarktis, war Lebensraum für Eisbären und Polarfüchse, Pinguine und Robben, schloss Geheimnisse der Vergangenheit ein und sorgte für ein normales Weltklima. Mittlerweile schmelzen die Gletscher an den Polkappen, und man geht davon aus, dass Eisbären bis zum Ende des Jahrhunderts aussterben (falls sie sich nicht vorher genetisch ans mildere Klima anpassen).

Damals war Høegs Buch ein Bestseller, fünf Jahre später wurde es von Bille August verfilmt. Der Schnee, durch den die nur mit zugekniffenem Auge als Inuk durchgehende Smilla-Darstellerin Julia Ormond stapft (gedreht wurde in Grönland), hatte zwar etwas Mächtiges; Smillas titelgebendes „Gefühl“, ihre Beziehung zu ihm ist eng. Doch über die Symbolik der „erkalteten“ Seele hinaus bekam er wenig Eigenleben zugestanden. Er bildete eher die weiße, kalte und schöne Kulisse für einen Thriller.

Jahreszeitenunabhängiger, symbolträchtiger Schnee schmückte aber schon viel früher Geschichten. Im aus sieben Teilen bestehenden Kunstmärchen „Die Schneekönigin“, erdacht 1844 von Hans Christian Andersen, hat das Eis mehrere Funktionen.

Es ist das Metier der Schneekönigin, der ein Junge namens Kay in ihren Eispalast folgt, nachdem der Splitter eines Zauberspiegels sein Herz vereist hat. Kay ist fasziniert von der Kälte der schönen Königin, die im weißen Bärenpelz vorfährt.

Als Kays Freundin Gerda nach ihm sucht, macht ihr der Schnee zunächst einen Strich durch die Rechnung: „Da kam ihr plötzlich ein ganzes Regiment Schneeflocken entgegen. Sie waren aber nicht etwa vom Himmel herabgefallen – der war ganz klar und strahlte von Nordlichtern –, sondern die Schneeflocken trieben gerade über die Oberfläche der Erde hin, und je näher sie kamen, desto größer wurden sie. Gerda erinnerte sich wohl noch, wie groß und kunstvoll eine Schneeflocke einst unter dem Vergrößerungsglas ausgesehen hatte; aber hier zeigten sie sich in noch ganz anderer Größe, in einer wahren Schreckgestalt. […] Sie hatten die sonderbarsten Gestalten. Einige sahen aus wie hässliche, große Stachelschweine“.

Das Schloss der Schneekönigin, in dem Gerda Kay zu finden hofft, ist ein frostiges Sinnbild der Einsamkeit. Es besteht aus Hunderten riesigen Sälen, „alle waren von starken Nordlichtern erleuchtet“, schreibt Andersen, „aber alle waren groß, leer, eisig kalt und hell schimmernd“.

Andersen selbst war ein einsamer Mann – von vielen Ex­ege­t:in­nen und Bio­gra­f:in­nen wird eine heimliche Homosexualität diskutiert. Dass er unglücklich mit der von ihm so empfundenen Reduzierung auf Kindererzählungen war, ist erwiesen. Die französische Regisseurin Lucile Hadžihalilović legt mit dem soeben gestarteten Film „Herz aus Eis“ eine neue, moderne Bearbeitung von ­Andersen vor.

Wieder macht sich ein Mädchen auf ins Eis. Jeanne (Clara Pacini) flüchtet in den 1970er Jahren aus dem Waisenhaus. Sie sieht auf einem winterlichen Dorfplatz eine faszinierende Schlittschuhläuferin und versteckt sich nachts in einer benachbarten Lagerhalle. Dort begegnet ihr Cristina (Marion Cotillard) andersengerecht in opulentem, weißem Outfit, das sich als Kostüm herausstellt. Denn sie spielt die Schneekönigin in einem Film, der dort gedreht wird.

Jeanne schmuggelt sich als Komparsin ans Set. Ihre Szenen mit der Schneekönigin werden intensiver, ihre Beziehung schwankt zwischen intim und distanziert. Die Suche nach Liebe in einer kalten, einsamen Welt, zu der Hadžihalilović – passend zum Märchenautor – eine homoerotische Lesung anbietet, echot die Themen Andersens. Hadžihalilović tupft mit zartem Pinsel weitere Motive ins Bild – die Krähen, die Gerda im Originalmärchen bei der Suche nach Kay helfen, flattern ebenfalls durch den Film.

Das beeindruckende Set dagegen erinnert in seinem surreal-expressionistischen Design ebenso an die Anfänge des fantastischen Kinos, wie an Dalís legendäres Traum-Skifahr-Set für Hitchcocks Thriller „Spellbound“ von 1945. In diesem wird ein mental instabiler Arzt (Gregory Peck) durch die Spuren, die eine Gabel auf einem weißen Tischtuch macht, getriggert und an die Ursache seines Traumas (ein Unfall im Schnee) erinnert – der Schnee bekommt eine weitere psychologische Dimension.

Auch beim hilfreichen Außerirdischen „Superman“ bedeuten Eis und Schnee nicht Winter, sondern ebenfalls Solitude. Superman ist zuweilen in seiner eisigen „Festung der Einsamkeit“ zu finden, die seit den Comicausgaben von 1949 meist in einer polaren Einöde angesiedelt ist. Im aktuellen Film halten sich der Held und sein Hund oft dort auf – denn Hilfsroboter heilen den im Kampf geschundenen Supermankörper bei Bedarf mit durch Eislinsen verstärkter Strahlung. Bereits beim gegen Einsamkeit immunen Agenten James Bond wurden Schnee und Eis von einer emotionale Kälte symbolisierenden Umgebung zum politischen Schlachtfeld.

In Lee Tamahoris 2002 inszenierten „Die Another Day“ lädt ein Milliardär 007 in seinen Eispalast ein, wo mit einer neuen Technik Solarenergie produziert werden kann, leider nicht zu umweltfreundlichen Zwecken.

Brian Kirks neuer, unnötig brutaler Thriller „Dead of Winter“ versinkt gar komplett im Schnee – sein kruder Illegale-Organentnahme-Plot spielt auf einem gefrorenen See, der so „Bakterienfreiheit“ garantieren soll.

Dort begegnet ihr Cristina andersengerecht in opulentem, weißem Outfit, das sich als Kostüm herausstellt

Die serielle, in naher Zukunft angesiedelte und ohne das despektierliche Diminutiv auskommende, aktuelle Smilla-Adaption, inszeniert von der Regisseurin Amma Asante, vergräbt jede Menge Relevanz im Eis: Hier geht es um den Klimawandel. Man sieht Schmelze und wackelige Eisschollen; die politischen Konsequenzen sind eines der Motive der Serie.

Denn wer die Macht über die (ressourcenausbeutende) Energieproduktion innehat, hat auch Macht über die Menschen. Das Eis, am Ende in redun­danten Sequenzen dennoch schön in Szene gesetzt, verbirgt zudem eine spirituelle Dimension, die Smilla und den „Mechaniker“ (Elyas M’Barek) verbindet. Die Funktion von Eis und Schnee als märchenhafte Umgebung für winterliche und damit auch weihnachtliche Narrative schmilzt dennoch zum Glück nicht so schnell dahin wie die echten Polarkappen.

Jedenfalls nicht, solange „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ gesungen wird, Väterchen Frost Geschenke bringt und ein vaterloses Mädchen kurz vor Weihnachten im Fernsehkult „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ dem Prinzen einen Schneeball an den Kopf wirft. Und dann selbstbewusst durch den Winterwald davongaloppiert.

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